Mittwoch 08 März 2023, 08:00

Torrecilla: "Der Sport hat dafür gesorgt, dass ich heute hier stehe"

  • Bei der spanischen Nationalspielerin von Atlético Madrid wurde 2020 ein Hirntumor diagnostiziert

  • Bekanntheitsgrad nutzen, um anderen zu helfen

  • Am 23. Januar 2022 fühlte sie sich wieder wie eine Fussballspielerin

"Die Virginia von früher gibt es nicht mehr. Leider musste ich diese Krankheit durchmachen, aber sie hat mich zu einem sehr positiven Menschen gemacht und in vieler Hinsicht mutiger und stärker. Die heutige Virginia lebt anders, aber vor allem besser."

Diese Aussage stammt von Virginia Torrecilla. Das Leben der 28-jährigen Mittelfeldspielerin von Atlético Madrid und dem spanischen Nationalteam sollte sich 2020 radikal ändern. Während die Welt versuchte, sich auf die Covid-19-Pandemie einzustellen, wurde bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert.

Jetzt hat sie die Krankheit hinter sich gelassen, und an einem so bedeutenden Tag wie dem Weltfrauentag berichtet Torrecilla auf FIFA.com über ihre Erfahrungen und darüber, wie schwer es ist, aufs Spielfeld zurückzukehren. Trotzdem blickt sie immer positiv in die Zukunft. Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit sie über das spricht, was sie erlebt hat, und mit welcher Freude sie auf die schönen Momente zurückblickt, die sie vor allem dem Fussball und der Zuneigung anderer Menschen zu verdanken hat.

"Der Fussball hat mich vor vielen Dingen bewahrt, und die Zuneigung, die mir entgegengebracht wurde. Ich spreche dabei nicht von meiner Familie oder meinen Freunden, sondern von Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte und die zu 100 Prozent hinter mir standen. Sie haben von eigenen Erlebnissen erzählt und mich aufgemuntert. Da wurde mir bewusst, wie wichtig es war, alles öffentlich zu machen, was ich gerade durchmachte", berichtet sie.  

Als man bei ihr den Krebs diagnostizierte und mit der Behandlung begann, ging sie damit an die Öffentlichkeit. Sie wusste, dass sie aufgrund ihres Bekanntheitsgrads als Spielerin vielen Menschen helfen und einen sehr positiven Einfluss nehmen konnte. 

Germany v Spain: Group B - 2019 FIFA Women's World Cup France - 06-Dec, 2019

Öffentlich machen, um zu helfen

"Vielleicht lebte ich ein wenig am echten Leben vorbei, denn ich hätte nie gedacht, dass ich Krebs bekommen könnte. Schließlich war ich Sportlerin, gab auf mich acht und ernährte mich schon von klein auf gesund. Ich wollte den Leuten klar machen, dass auch wir Sportler krank werden."

"So ist das Leben leider. Alle haben gesehen, dass Virginia eine Frauen-WM gespielt hat, von Atlético verpflichtet wurde und ein Superstar ist, aber dann ist das passiert. Ich wollte zeigen, dass es trotzdem weitergehen kann und möglichst vielen Menschen helfen", erklärt sie.

Als sie darüber spricht, was sie durchgemacht hat und was sie tut, um wieder die zu werden, die sie einmal war, kommt auch psychologische Betreuung ins Spiel. "Ich brauchte Hilfe, damit diese Virginia wieder zum Vorschein kommt, damit ich wieder lächeln kann. Das ist psychische Gesundheit. Ich habe schwere Zeiten durchgemacht, in denen ich so depressiv war, dass ich kaum aus dem Bett gekommen bin. Aber ich bin dann doch aufgestanden, weil mir nichts anderes übrig blieb. Ich wollte zwar stark sein, aber dadurch ist es mir nicht besser gegangen", erzählt sie.

Nach und nach ging sie diese neue Herausforderung an. Mit viel Willenskraft gewann sie den Kampf schließlich und fühlte sich auch endlich wieder wie eine Fussballerin. Sie klammerte sich an den Fussball, um die Hoffnung nicht zu verlieren. "Was da passiert ist, war sehr schlimm. Andere Menschen und die Familie unterstützen dich sehr, aber was mich wirklich von all den schlechten Dingen abgelenkt hat, war der Fussball, der Sport. Der Gedanke an den Moment, in dem ich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann. Der Sport hat dafür gesorgt, dass ich heute hier stehe." 

Die Rückkehr in den Trainingsbetrieb erwies sich als ziemlich kompliziert – das war der erste Realitätsschock. "Ich war immer bei meinen Mitspielerinnen, auch wenn ich nicht aktiv dabei war. Die Rückkehr war sehr schön. Ich hatte einen Glatzkopf und brachte 17 Kilo weniger auf die Waage, aber ich war voller Lebensfreude und glücklich, dass ich es überstanden hatte. Gleichzeitig war ich aber auch etwas traurig, weil ich nicht mehr dieselbe sein konnte wie früher."  "Heute verlangt der Fussball mir mehr ab, als er mir gibt", sagt eine kämpferisch eingestellte Torrecilla mit der beeindruckenden Ehrlichkeit, die sie während des gesamten Interviews an den Tag legt. Allerdings relativiert sie diese Aussage gleich wieder: "Dann denke ich: 'Wie kann es sein, dass der Fussball mir so viel abverlangt, wo ich doch mega schwierige Situationen überwunden und erkannt habe, worum es im Leben geht?'." 

Immer wieder hinterfragt sie sich selbst. "Ich konzentriere mich einfach nicht auf die Dinge, die ich gut mache. Ich konzentriere mich auf den Fussball, und da bin ich eben nicht wie früher und habe nicht dasselbe Gewicht im Team wie früher. Dann sage ich mir immer: 'Virginia, wie kannst du so denken, obwohl du all diese schlimmen Dinge erlebt hast?'. Aber leider sind wir so und so geht es mir jetzt." 

Virginia Torrecilla returns to play during the Spanish Supercup final 2022

Rückkehr zu alter Stärke 

Torrecilla gehörte bei der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ zu den Leistungsträgerinnen im spanischen Team und kämpft jetzt um jede Einsatzminute. Es ist nicht leicht, der Realität ins Auge zu blicken, mit der sie nach der schweren Krankheit konfrontiert ist. 

"Ich möchte wieder die sein, die ich früher war. Es ist schwierig für mich, Spielminuten zu bekommen und zu akzeptieren, wie ich heute bin. Ich habe längst nicht so viel Kraft wie früher. Es ist wichtig, ehrgeizig zu sein und zu kämpfen. Ich mache weiter, um wieder die Virginia zu werden, die ich einmal war, aber vor allem, um ein besserer Mensch zu sein", meint sie und betont, dass sie gelernt hat, kleine Dinge wertzuschätzen. "Ich genieße jeden Augenblick, als wäre es der letzte, weil ich nicht weiß, was morgen passieren wird." 

Einen Tag wird Virginia sicher immer in Erinnerung behalten, und zwar den 23. Januar 2022, den Tag, an dem sie sich endlich wieder wie eine Fussballspielerin fühlte. An diesem Tag fand das Finale des spanischen Superpokals statt, und ihr Team, Atlético Madrid, trat gegen den FC Barcelona an. Einmal ganz abgesehen vom Ergebnis, war sie nämlich die Hauptperson. 

"Alexia verdient es mehr als jede andere" 

"Das war ein 'Vorher-Nachher-Moment' im spanischen Frauenfussball. Im Spiel gegen Barça habe ich viele langjährige Freundinnen getroffen: Alexia [Putellas], Irene [Paredes], Mapi [Leon], Mariona, Pati [Guijarro] … Es war sehr schön, dass sie alle dabei waren, aber auch die Spielerinnen, die ich noch nicht kannte. Alle haben mich umarmt, gedrückt und mir alles Gute gewünscht. Das war nach alldem der schönste Augenblick überhaupt." 

Bevor wir uns verabschieden bitten wir Torrecilla noch um zwei ganz besondere Botschaften. Die erste ist für eine ihrer besten Freundinnen bestimmt, Alexia Putella, die vor einigen Tagen zum zweiten Mal in Folge als "The Best – FIFA-Weltfussballerin" ausgezeichnet wurde. "Sie verdient all die guten Dinge, die ihr widerfahren sind, mehr als jede andere. Sie ist nicht nur eine tolle Sportlerin, sondern auch ein toller Mensch." 

Die zweite Botschaft soll an all die Mädchen gerichtet sein, die Fussball spielen und davon träumen, eines Tages so weit zu kommen wie ihre Idole. "Ich würde ihnen folgendes mit auf den Weg geben: Ich weiß, dass es kein leichter Weg ist. Sicherlich werden sie oftmals kurz davor sein, das Handtuch zu werfen. Aber es kommt darauf an, weiterzumachen und für seine Träume zu kämpfen. Sie können es schaffen, genauso wie ich es geschafft habe", meint sie abschließend. 

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Atlético Madrid