Donnerstag 30 Juni 2016, 11:20

Der Traum, der Berge versetzt

Man stelle sich die Situation vor. Sie sind Trauzeuge bei der Hochzeit Ihres Bruders. Alle Ihre Freunde werden daran teilnehmen. Die gesamte Familie. Die Veranstaltung wurde schon vor Monaten organisiert, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wird die Zeremonie an einem paradiesischen Karibikstrand in Tausenden Kilometern Entfernung von der Heimat stattfinden. Und dann kommt Ihnen in letzter Minute etwas Dringendes dazwischen. Sie können nicht dabei sein.

Ein solcher Vorfall wäre in manchen Familien sicher ausreichend, um die Harmonie dauerhaft zu schädigen. Doch in unserem Fall verhält sich die Sache anders. Bei dieser Hochzeit sind alle glücklich darüber, dass der Trauzeuge mit Abwesenheit glänzen wird. Tatsächlich wären alle Gäste nebst Bräutigam lieber beim Trauzeugen als bei der Hochzeit!

Denn bei dem abgängigen Trauzeugen handelt es sich um den walisischen Nationalspieler Chris Gunter. Und der unaufschiebbare Termin, der ihm dazwischengekommen ist, ist das Viertelfinale der EURO 2016 in Frankreich, in dem sein Team am Freitag, 1. Juli, gegen Belgien antritt.

Planänderung "Ich glaube, ich werde der erste Trauzeuge sein, der seine Rede über Skype hält", so der Rechtsverteidiger mit viel Humor. Aber für die anderen ist es noch schlimmer. Die Hochzeit findet zwar erst am 7. Juli statt, doch alle hatten die Reise zehn Tage vorher geplant. Das würde bedeuten, dass man die Partie gegen Belgien verpasst, was für reichlich Probleme gesorgt hat."

Probleme hat sogar der Bräutigam, der sich nicht nur den Zorn der Gäste zuziehen könnte, sondern auch den seiner zukünftigen Ehefrau. "Scheinbar wird er nach Cancún fliegen, dann nach Lille zurückkommen, um sich das Spiel anzuschauen, und anschließend sofort zur Hochzeit in die Karibik zurückkehren. So war das jedenfalls geplant. Ich weiß nicht, wie seiner zukünftigen Frau das gefallen wird!", bestätigt der Spieler des FC Reading lachend.

Einmal abgesehen von dieser Anekdote hat die Leistung der walisischen Nationalmannschaft das gesamte Land überrascht und mitgerissen. Der Triumph gegen Nordirland (1:0) war der erste Sieg in der zweiten Runde eines internationalen Turniers. Das Ausmaß dieses Erfolgs wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass das Team seit der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Schweden 1958™ nicht mehr an einem großen Turnier teilgenommen hat.

"Es ist wirklich unglaublich zu sehen, was das Ganze für alle im Land bedeutet und wie die Menschen genießen", so der 26-jährige Verteidiger begeistert. "Es war fantastisch, die Fans zu sehen und die Stimmung zu erleben, die sie auf den Rängen gemacht haben. Wenn wir als Spieler noch gar nicht fassen können, was wir da erreicht haben, wie soll es da erst unseren Fans gehen?"

Der große Tag Es überrascht nicht, dass die Partie gegen Belgien als die wichtigste in der Geschichte des Landes gilt. Schätzungsweise werden 30.000 Waliser die Reise nach Lille antreten, um Teil der Legende zu werden. Neil Taylor, Gunters Kollege in der Abwehr der Roten, ist die Tragweite dieses Augenblicks durchaus bewusst.

"Das war bislang ein unglaubliches Turnier. Wirklich unglaublich", so der linke Verteidiger von Swansea City. Wir sind nur noch 180 Minuten vom Finale entfernt, und jetzt kann alles passieren. Ehrlich gesagt können wir es noch gar nicht glauben. Es ist noch nicht wirklich in den Köpfen angekommen, aber wir wollen so weitermachen."

Die nächste Hürde wird nicht leicht zu überwinden sein. Belgien belegt in der FIFA/Coca-Cola-Weltrangliste den zweiten Platz und tritt mit einem wahren Staraufgebot an. Außerdem strotzt das Team nach dem 4:0-Kantersieg gegen Ungarn im Achtelfinale nur so vor Selbstbewusstsein. Doch eine Statistik macht den Walisern Mut. Die beiden Teams standen sich bereits in der Qualifikation gegenüber – mit einer Bilanz von einem Sieg für die Briten und einem Remis.

"Wir kennen die Belgier gut und sie uns auch. Sie sind sehr stark, aber alles ist möglich", so Taylor überzeugt. Gunter geht sogar noch weiter. "Sie sind sehr gut, aber ich glaube, solche Mannschaften liegen uns sogar besser. Uns kommt es gelegen, wenn sie angreifen, weil wir Spieler haben, die die Räume nutzen können."

Ganz Wales ist von Begeisterung und Zuversicht erfasst. Das geht so weit, dass eine ganze Familie die Daumen dafür drückt , dass der Trauzeuge "aus beruflichen Gründen" verhindert sein möge und nicht zur Hochzeit kommt. Seine Abwesenheit würde vermutlich begeisterter gefeiert als das Jawort der Brautleute.