Mittwoch 19 Oktober 2011, 16:57

Herdman: Meine Ziele in Kanada

Als frisch gebackener CONCACAF-Meister reiste Kanada mit großen Hoffnungen zur FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2011. Doch nach einer respektablen 1:2-Niederlage gegen Gastgeber Deutschland im Eröffnungsspiel brachen die Kanadierinnen regelrecht ein. Spielführerin Christine Sinclair musste die verbleibenden Partien mit gebrochener Nase bestreiten. Es gab eine bittere 0:4-Niederlage gegen Frankreich und schließlich auch noch ein enttäuschendes 0:1 im letzten Gruppenspiel gegen Nigeria. Die zuvor hoch gehandelten Kanadierinnen mussten die Heimreise schließlich ohne einen einzigen Punkt antreten.

Auf das frühe Ausscheiden bei der WM folgte die Trennung von der italienischen Trainerin Carolina Morace, die die Mannschaft in den zwei vorausgegangenen Jahren geführt und ihr eine neue, stärker auf Ballbesitz und konstruktiven Spielaufbau ausgerichtete Spielweise verordnet hatte. Davor hatten die Kanadierinnen meist den direkten Weg zum Tor gesucht. Doch mit dieser Umstellung verlor das Team auch seine robuste Spielweise. Nun hat der ehemalige neuseeländische Nationaltrainer John Herdman die Aufgabe übernommen, die kanadische Frauenmannschaft mit einem neuen Ansatz wieder auf Erfolgskurs zu bringen.

Erster Sieg unter Herdman gegen Costa Rica Kanada richtet das CONCACAF-Qualifikationsturnier für die Olympischen Spiele von London 2012 aus und ist außerdem Gastgeber der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2015. Entsprechend erlebte der Engländer seinen ersten Monat als Trainer der Frauen-Nationalmannschaft als 'echten Wirbelwind'. In den bisherigen zwei Spielen gegen die USA unter seiner Leitung sah Herdman eine vielversprechende Reaktion seiner Mannschaft nach der enttäuschenden WM. Nun sind die Kanadierinnen fest entschlossen, sich einen Platz in der Spitzengruppe zu erobern. "Ja, wir haben begonnen, darauf hin zu arbeiten. Wichtig ist erst einmal, wieder in den Sattel zu steigen", so Herdman gegenüber FIFA.com. "Die Spielerinnen haben ihr ganzes Leben lang Fussball gespielt, und sie alle haben im Verlauf ihrer Karrieren sicher schon andere Höhen und Tiefen erlebt. Sie bilden eine sehr professionelle und energische Gruppe. Der eine Monat, den ich jetzt mit ihnen zusammenarbeite, war eine sehr positive Erfahrung."

Herdman hatte die neuseeländische Frauen-Nationalmannschaft zu zwei WM-Endrunden (2007 und 2011) und zu den Olympischen Spielen von Peking 2008 geführt. Mit den Kanadierinnen gab es in den ersten zwei Spielen unter seiner Leitung ein Unentschieden und eine Niederlage gegen die USA. Nun stehen die Panamerikanischen Spiele an, die gestern in Guadalajara (Mexiko) begannen. Dort feierte Kanada im ersten Spiel der Gruppenphase einen 3:1-Erfolg gegen Costa Rica. Weitere Gegner sind in den kommenden Tagen Argentinien und Brasilien.

Vergangenheit und Gegenwart Die Kaderlisten für die Freundschaftsspiele gegen die USA und auch für die Panamerikanischen Spiele stammen zwar noch aus der Zeit vor Herdmans Amtsantritt, doch der 36-Jährige sieht das Turnier in erster Linie als gute Gelegenheit, seine Schützlinge kennen zu lernen und eine intensivere Zusammenarbeit mit ihnen zu beginnen. "Ich denke, dass die Spielerinnen in einer Mannschaft großen Einfluss auf den Stil und die Spielphilosophie haben", so Herdman.

"Bei den Gesprächen mit den Spielerinnen wurde schon klar, dass sie auch weiterhin einen modernen Fussball spielen wollen. Wir wollen aggressiv und modern spielen und ein System entwickeln, das den Anforderungen des heutigen Frauenfussballs entspricht. Die Spielerinnen wollen auch weiterhin mit viel Ballbesitz spielen und schnell umschalten können. Gleichzeitig wollen sie auch körperbetonter spielen."

Nach seiner Ankunft in Kanada erkannte Herdman schon bald, dass sich die Mannschaft ihrer eigenen Identität beraubt fühlte. Harte Zweikämpfe und kompromisslose Verteidigung gehörten früher zu den wichtigsten Merkmalen des kanadischen Frauenfussballs. In den ersten Besprechungen drückten die Spielerinnen ihren Wunsch aus, diese Qualitäten wiederzubeleben, aber gleichzeitig auch die unter Morace gemachten spielerischen Fortschritte zu bewahren. "Sie wollen sich wie früher bei gegnerischen Teams Respekt verschaffen und gleichzeitig einen moderneren Angriffsfussball spielen."

Strategische Entwicklung Herdman hat zwar mit den Neuseeländerinnen beeindruckende Erfolge erzielt und sie zu mehreren Weltturnieren geführt, doch mit Kanada locken noch deutlich größere Triumphe, zumal der kanadische Fussballverband im Vorfeld der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2015 weiterhin viel in den Frauenfussball investieren will. Herdman will zunächst einmal im Januar die erstmalige Qualifikation für die Olympischen Spiele unter Dach und Fach bringen. Mittelfristig soll es strukturelle Verbesserungen auf mehreren Ebenen geben, damit sich Kanada als Weltmacht im Frauenfussball etablieren kann - angefangen im Nachwuchsbereich.

"Die Weltmeisterschaft ist natürlich das große Ziel, doch auf dem Weg dorthin gibt es eine strategische Ebene, die deutliche Investitionen verlangt, um häufiger Weltklassespielerinnen vom Format einer Christine Sinclair zu hervorzubringen ." Hierzu verweist Herdman darauf, wie wichtig es ist, in den Altersklassen U‑17 und U‑20 solide Teams zu bilden, die letztlich bis zur WM 2015 an die A‑Nationalmannschaft herangeführt werden sollen. Herdman hat bereits genaue Vorstellungen davon, wie die Entwicklung dieser Spielerinnen erfolgen kann. "Nach meiner Erfahrung führt eine gute Arbeit ab der Altersklasse U-14 systematisch zu entsprechenden Erfolgen bei den Senioren. Auf diese Weise kann man Weltklassespielerinnen formen", so Herdmans Überzeugung.

Kanadas Rekordtorschützin Sinclair wird bei den Spielen von London 2012 auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit sein. Coach Herdman plant, sie als Grundpfeiler in die Mannschaft für die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2015 zu integrieren, während er gleichzeitig bereits nach jüngeren Akteurinnen sucht.

"Wir haben hier ein Hochleistungs-Umfeld mit enormen Ressourcen an aktiven Spielerinnen. Unser Talentereservoir ist sehr stark. Mit einigen strukturellen Veränderungen kann sich die Mannschaft sicher in der Spitzengruppe unter den Top Vier festsetzen", fasst Herdman seine Ambitionen mit Kanada zusammen. "Aber das braucht Zeit und Investitionen und Engagement auch außerhalb der Frauen-Nationalmannschaft. Wenn man nach ganz oben will, muss man nach den Sternen streben. Ich denke, dass es in diesem Land durchaus realistisch ist, danach zu streben, dass die Mannschaft ganz oben landet."