Sonntag 25 April 2021, 08:29

Leonel Sánchez und der linke Hammer

  • Der chilenische Stürmer kam am 25. April 1936 zur Welt

  • Ein Aushängeschild des südamerikanischen Fussballs

  • Zu seinem 85. Geburtstag zollt FIFA.com Gran Leonel Tribut

"Ich glaube, ich bin das größte Idol von La U und einer der besten chilenischen Stürmer."

Diese Aussage war oftmals von Leonel Sánchez zu hören, der sich stolz, aber gleichzeitig auch bescheiden gab. Es heißt, es habe nach ihm im chilenischen Fussball nie einen vergleichbaren Linksfuß gegeben. Das mag auf den Gewaltschuss aus 40 Metern Torentfernung zurückzuführen sein, der der Rivalität zwischen Universidad de Chile und Colo-Colo 1959 neuen Zündstoff verlieh, oder aber auf den Freistoß, mit dem er Lev Yashin bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Chile 1962 chancenlos ließ. Gestärkt wird der Mythos von 500 Spielen, 200 Toren und zahllosen unvergesslichen Aktionen.

Leonel Sánchez stand für Eigenschaften, die der chilenische Fussball zuvor missen ließ, nämlich Charakterstärke, Rivalität, ein Zugehörigkeitsgefühl und Unterhaltsamkeit. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts zog der Boxkampf die Menschen in Chile in seinen Bann, und zwar zum Teil durch heldenhafte Auftritte gegen Weltmächte der Sportart, mit denen der Fussball nicht dienen konnte.

Auch Sánchez hätte zu einem interessanten Faustkämpfer werden können. Als Kind verbrachte er viel Zeit im Bustamante-Park im östlichen Stadtgebiet Santiagos. Sein Vater, ein Berufsboxer, leitete ein Studio, in dem Boxstars wie Arturo Godoy trainierten. Doch davon ließ sich ein Kind, das sich von Anfang an für den Ball begeisterte, nicht beeindrucken.

Mit zwölf Jahren und nach einem kurzen Zwischenspiel bei Stadtteilklubs, nahm er ein Angebot an, das sein Leben verändern sollte: ein Probetraining bei Universidad de Chile, kurz La U. Die Klubführung hatte damals beschlossen, in den Nachwuchs zu investieren, um ein Team zusammenzustellen, das auf lange Sicht in der Elite bestehen könnte. Die Verantwortlichen führten eine Ausbildungsmethode mit psychologischen Tests ein, um den Charakter und die Reaktionsschnelligkeit zu messen, Eigenschaften, die Leonel quasi in die Wiege gelegt worden waren und die er bereits beim Boxen nutzte.

Das blaue Ballett

Sein Name machte in den Büros die Runde. Der Junge mit dem starken linken Fuß, dessen Gewaltschüsse die Tornetze zum Zerreißen brachten und der Eckbälle mit einer solchen Wucht trat, dass sie auf der anderen Seite des Platzes landeten, gab im Alter von 17 Jahren sein Debüt in der ersten Mannschaft: "Ich wurde direkt Stammspieler und bin es auch geblieben", meint er rückblickend.

Die neue Generation mit Leonel Sánchez, Carlos Campos, Sergio Navarro und Co. brachte eine Fangemeinde zum Träumen, die bereits seit 1940 auf Erfolge wartete. Auf einen vierten Platz in der chilenischen Meisterschaft 1955 und dem zweiten Platz 1957 folgte 1959 der Titelgewinn.

Aus den einstigen Hoffnungsträgern hatten sich gestandene Spieler entwickelt. In jener Saison gewann La U zehn der letzten elf Spiele, eine Erfolgsserie, zu der Sánchez elf Tore beitrug. Damit holte man den Rückstand auf Colo-Colo auf und stand am Ende punktgleich mit dem Rivalen an der Tabellenspitze. Der Meister wurde in einem Entscheidungsspiel ermittelt.

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Nie zuvor hatte ein Fussballspiel in Chile so hohe Wellen geschlagen. Colo-Colo hatte gute Chancen, doch dann kam Sánchez: "Ein mächtiger Schuss von Leonel Sánchez rutschte Escuti durch die Hände", war in der Zeitung La Nación zu lesen. Damit konnte La U nach 19 Jahren endlich wieder einen Titel einfahren, und aus der Rivalität zwischen dem Klub und Colo-Colo entwickelte sich DAS Derby des chilenischen Fussballs – El gran Clásico.

Nach kurzer Zeit bekam der Klub den Spitznamen das neue blaue Ballett. Der attraktive Offensivfussball, den das Team bot, machte es nämlich zu einem würdigen Nachfolger des kolumbianischen Klubs FC Millionarios mit Adolfo Pedernera und Alfredo Di Stéfano, der Anfang der 1950er-Jahre für Furore gesorgt hatte. Sechs Meistertitel konnte La U von 1959 bis 1969 verbuchen und führte damit ein Projekt zum Erfolg, bei dem auf den eigenen Nachwuchs gesetzt wurde.

Die Schlacht von Santiago

Auch in der Nationalmannschaft schrieb Leonel Sánchez mit hervorragenden Auftritten und spektakulären Toren ein Kapitel chilenischer Fussballgeschichte. Sein Debüt gab er mit 19 Jahren im Maracanã-Stadion gegen Brasilien, und im Laufe seiner 13-jährigen Länderspielkarriere erzielte er 24 Tore in 84 Spielen. Sánchez nahm an zwei FIFA Fussball-Weltmeisterschaften™ teil, wobei er besonders bei der Auflage von 1962 in Chile zu glänzen wusste. Dort erzielte er vier Tore und wurde gemeinsam mit Vavá, Drazen Jerkovic, Garrincha, Florian Albert und Valentin Ivanov mit dem Goldenen Schuh ausgezeichnet.

Im Vorfeld der WM hatte Sánchez mit seinem Klub die chilenische Meisterschaft gewonnen und etwa 20 Tore auf dem Konto. Beim WM-Debüt Chiles konnte er an diese positive Bilanz anknüpfen. Nach anfänglichem Rückstand fuhr das Team einen 3:1-Sieg gegen die Schweiz ein, zu dem der Stürmer zwei clever herausgespielte Treffer beitrug.

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In der nächsten Partie gegen Italien bot sich die Chance auf den Einzug ins Viertelfinale und zur Revanche für eine Reportage, die einige Wochen zuvor in einer italienischen Tageszeitung erschienen war und in der das Gastgeberland als Ort der Prostitution, des Analphabetismus und des Elends beschrieben worden war.

Die chilenische Nationalmannschaft fasste dies als Beleidigung auf, und Leonel Sánchez reagierte mit Härte. Gegen Ende der ersten Halbzeit eines von unglaublicher Brutalität geprägten Duells revanchierte er sich bei Mario David für eine Reihe von Tritten, indem er den Italiener niederstreckte. "Wenn Leonel zuschlägt, geht der Gegner K. o.", so Sergio Navarro, der damalige Kapitän von La Roja.

Der Sohn des Südamerikameisters im Federgewicht konnte sein Temperament nicht mehr im Zaum halten. Die Schlacht von Santiago endete mit zwei Platzverweisen für die Azzurri und einem 2:0-Sieg für den Gastgeber, der damit den Einzug ins Viertelfinale perfekt machte.

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"Göttliche Gerechtigkeit"

Im letzten Gruppenspiel unterlag Chile der BR Deutschland mit 2:0 und traf im Viertelfinale auf den Europameister Sowjetunion. In den ersten Minuten wurde Elfmeter reklamiert, doch laut Schiedsrichter war das Foul vor dem Strafraum passiert. Die Position war eigentlich ideal für den Rechtsfuß Jorge Toro. "Lass mich ausführen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass etwas passieren wird", sagte Sánchez.

Die spontane Eingebung des Spielers sollte sich als goldrichtig erweisen. Er lenkte den Ball mit einem starken Schuss an der Mauer vorbei und erwischte den legendären Lev Yashin auf dem falschen Fuß. Die _schwarze Spinne_hatte nämlich eine Hereingabe erwartet und bewegte sich in die falsche Richtung. "Göttliche Gerechtigkeit!", schrie der Reporter Julio Martínez in seiner Radioreportage und verewigte sich damit für die Nachwelt.

"Sie wussten nicht, dass Chile einen gewissen Leonel Sánchez hatte, der gut schießen konnte", erklärte auch der Torschütze selbst, nicht ohne Ironie. Die Chilenen gewannen 2:1 gegen die Sowjetunion und zogen überraschend ins Halbfinale ein.

Dort war Brasilien mit Vavá und Garrincha dem Gastgeber überlegen (4:2), obwohl Sánchez (per Elfmeter) noch sein viertes Turniertor erzielte. Drei Tage später setzte Chile sich mit 1:0 gegen Jugoslawien durch und sicherte sich damit einen historischen dritten Platz.

In den folgenden Jahren war Leonel Sánchez konstant in der Nationalmannschaft vertreten und nahm mit ihr auch an der WM 1966 in England teil, bei der das Team allerdings vorzeitig ausschied. Er feierte weiterhin Erfolge mit dem Klub seines Herzens, Universidad de Chile, bis die Vereinsführung ihn ohne Erklärung auf Abstellgleis stellte.

Daraufhin unterzeichnete er einen Einjahresvertrag beim Erzrivalen Colo-Colo und gewann 1970 die Liga. Palestino und Ferroviarios profitierten von seinen letzten Sternstunden, bevor er die Fussballschuhe 1973 an den Nagel hängte.

Leonel Sánchez steht im Fussball für all das, was er auch im Boxen hätte beitragen können, nämlich großes Talent, Charakterstärke und einen linken Hammer.

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