Samstag 02 Juli 2016, 13:46

Island schreibt Fussballgeschichte

Es gehört schon jetzt zu den Bildern des Jahres. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff sanken die englischen Spieler auf den Rasen des Stadions in Nizza. Sie hatten gerade eine der schmerzvollsten Niederlagen ihrer Geschichte kassiert. "Die schlimmste", urteilte der ehemalige Nationalspieler Gary Lineker. Weil das Mutterland des Fussballs gegen eine Nation verloren hatte, die "mehr Vulkane - 130 - als Profispieler - 100 - hat."

Der Debütant Island, der neben den Walisern um Gareth Bale die große Überraschung der EURO 2016 ist, feierte unterdessen den historischen Viertelfinaleinzug. Der Kapitän Aron Gunnarsson und seine Mitstreiter begaben sich zur Eckfahne, wo sich ihre knapp 10.000 Landsleute befanden. Das sind immerhin fast 3 Prozent der 330.000 Einwohner des Inselstaats, der nunmehr das kleinste Land ist, das je eine Endrunde eines großen Turniers bestritten hat.

Als die Spieler ankamen, trat unter den Anhängern Stille ein. Dann breitete Gunnarsson die Arme aus und schlug sie über seinem Kopf zusammen. Die Spieler und Fans machten es ihm nach. "Huh!!!", rief der Kapitän. Das Klatschen und die Schreie wiederholten sich immer schneller, immer stärker. Und immer unter der Anleitung des bärtigen Mittelfeldspielers.

Man könnte diese Art des Haka für eine alte Wikingertradition halten, aber in Wirklichkeit ist dieser Jubel "ausgeliehen".

2014 war der kleine isländische Klub Stjarnan die große Überraschung in den Vorrunden der Europa League und schaltete einige theoretisch stärkere Teams aus, unter anderem den Traditionsklub Motherwell. Beim Gastspiel im Stadion der Schotten waren die isländischen Spieler und Fans, unter ihnen der heutige Ersatztorwart Ingvar Jónsson, derart beeindruckt von der Art und Weise, wie die einheimischen Fans ihre Lieblinge anfeuerten, dass sie die Gesänge übernahmen.

Der Beginn von etwas NeuemJenes europäische Abenteuer endete in der Playoff-Runde gegen den mächtigen italienischen Klub Inter Mailand. Aber in gewisser Hinsicht war es der Beginn von etwas Neuem. Oder die Fortführung eines vielversprechenden Ansatzes, denn als der erfahrene Lars Lagerbäck 2011 die Nationalelf Islands übernahm, war sich der schwedische Trainer dessen bewusst, dass sich auf der Insel etwas verändert hatte.

Die U-21-Auswahl, in der einige heutige A-Nationalspieler standen, hatte sich gerade mit einem 4:1-Erfolg gegen Deutschland für die EURO dieser Alterskategorie qualifiziert. Und der isländische Fussball war nicht mehr nur ein Spiel, das ausschließlich auf Einsatzwillen und Kampfgeist beruhte. "Heute ragen die isländischen Spieler auch durch ihre technischen Fähigkeiten heraus. Dies verdankt sich den verbesserten Trainingsbedingungen", erklärte Lagerbäck im Gespräch mit der FIFA.

In einem so unwirtlichen Klima wie dem Islands konnte nur im Sommer Fussball gespielt werden und selten auf richtigen Rasenplätzen, wie Eidur Gudjohnsen, der größte Star in der Geschichte des isländischen Fussballs, berichtet. Mit seinen heute 37 Jahren mag er auf dem Platz nurmehr eine Nebenrolle spielen, doch mit der Teilnahme an dieser EURO erfüllt er sich einen Lebenstraum. "Als ich anfing, konnten wir nur im Sommer auf Kiesplätzen spielen. Heute verfügen wir über viele Halleneinrichtungen, in denen wir das ganze Jahr über spielen können."

Mehr Schafe als Einwohner...Anfang 2000 beschloss Island, eine Nation mit mehr Schafen als Einwohnern, in der die Königsdisziplin der Handball war, auf den Fussball zu setzen. Und dies im großen Stil: Es gibt heute zahlreiche überdachte Fussballplätze und mehr als 100 Minifelder aus Kunstrasen, die über die Schulen im ganzen Land verteilt sind. Doch das ist nicht alles: In dem Land mit den gerade 100 Fussballprofis kommt im Durchschnitt mindestens ein Trainer mit UEFA-Lizenz auf 500 Einwohner. Selbst um Anfänger zu trainieren, braucht es eben eine gute Ausbildung. "Der Trainerberuf hat sich zu einer Zweitbeschäftigung entwickelt, von der man leben kann", erklärte im Interview mit The Telegraph Dadi Rafnsson, der Leiter der Nachwuchsarbeit des isländischen Fussballverbands.

Und das beste Beispiel dafür ist Heimir Hallgrímsson. Der Zahnarzt, der als Assistent Lagerbäcks begann und heute Co-Trainer ist, wird nach der EURO die Aufgabe übernehmen, das isländische Team als Cheftrainer zur FIFA WM Russland 2018 führen.

Dank dieser Grundlagen hat sich der isländische Fussball konsolidiert und schaffte in diesem Juni endgültig den Durchbruch. Zwei Unentschieden gegen Portugal (1:1) und Ungarn (1:1) sowie ein knapper Sieg gegen Österreich (2:1) bescherten ihm den zweiten Platz in Gruppe F und den Einzug ins Achtelfinale. Anschließend folgte der Paukenschlag gegen England. Nun wartet am Sonntag der Gastgeber Frankreich.

Les Bleus sind klarer Favorit, doch angesichts der bisherigen Ereignisse ist nicht auszuschließen, dass die "Huh!"-Rufe noch einmal von den Rängen widerhallen - dieses Mal im Stade de France.