Montag 19 Juni 2023, 22:00

Chenard: Profi-Abenteurerin in neuer Rolle

  • Nach der verpassten Frauen-WM 2019 kehrt Carol Anne Chenard 2023 in neuer Rolle zurück

  • Die Kanadierin wurde als Video-Schiedsrichterassistentin für Australien & Neuseeland nominiert

  • "Die Frauen da draußen zeigen der Welt, was Qualitätsfussball ausmacht"

Viele haben sicher eine gewisse Vorstellung davon, wie der spätere Ruhestand nach einem langen Arbeitsleben aussehen könnte. Das gilt auch für Profifussballer und Schiedsrichter. Mit zunehmendem Alter rücken die Gedanken über einen Rücktritt vom aktiven Sport mehr in den Fokus, und wenn das Schicksal – wie im Fall von Carol Anne Chenard – zuschlägt, erfolgt dieser nicht immer freiwillig. "Meine Krebsdiagnose und das Verpassen der Frauen-WM 2019 haben meine Karriere auf dem Spielfeld beendet. Es war nicht so, wie ich mir das Ende meiner Karriere vorgestellt hatte“, erzählt die Kanadierin. "Während der Behandlung habe ich versucht, im Spiel zu bleiben. Ich wollte wieder auf das Spielfeld zurückkehren, aber ich wusste nicht, wie meine Prognose aussah. Die Concacaf, die FIFA und der Kanadische Fussballverband haben mir erlaubt, weiter zu trainieren. Das hat mich bei der Stange gehalten. Als ich wusste, dass ich nicht mehr auf den Platz zurückkehren konnte, habe ich mich gefragt, was ich als Nächstes tun sollte. Will ich Ausbilderin werden? Was genau möchte ich tun? Das Spielfeld und die Schiedsrichter liegen mir sehr am Herzen. Ich war noch nicht ganz bereit, mich zurückzuziehen, und da bot sich mir diese Gelegenheit.“

Von welcher Gelegenheit die 46-Jährige spricht? Im Januar 2023 gab die FIFA die Namen der für die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Australien & Neuseeland 2023™ aufgebotenen Spieloffiziellen bekannt, darunter 19 Video-Schiedsrichterassistenten (VAR) und erstmals auch sechs Frauen – eine von ihnen ist Chenard. "Ich bin wirklich stolz darauf, zurückzukommen. VAR ist jetzt eine neue Option, die wir vor fünf Jahren noch nicht hatten. Das gibt mir die Möglichkeit, meine Erfahrungen aus den Turnieren weiter zu nutzen. Es ermöglicht mir, die Schiedsrichter zu unterstützen und trotzdem näher am Spielfeld zu sein, als ich es als Ausbilderin je wäre. Teil einer Gruppe von Video-Schiedsrichterassistenten zu sein und einen Beitrag leisten zu können, um die jungen Schiedsrichter zu unterstützen, ist für mich etwas ganz Besonderes."

Der Weg Chenards zum Video Match Official (VMO) begann mit der Ausbildung bei PRO (Professional Referee Organization), einer professionellen US-kanadischen Schiedsrichterorganisation, die die MLS (Major League Soccer) und NWSL (National Women's Soccer League) unterstützt. Es folgten Übungsspiele, die Anfrage ein Jahr auf Probe in der MLS und im Anschluss regelmäßig zu arbeiten, Partien in der NWSL und eine Nominierung als Video-Schiedsrichterassistentin für die FIFA U-17-Frauen-Weltmeisterschaft 2022 in Indien - einschließlich des Endspiels am 30. Oktober 2022. "Insgesamt habe ich in den letzten drei Jahren etwa 50 Spiele absolviert. Natürlich konnte ich mich weiterentwickeln und meine FIFA-Zertifizierung erhalten, nachdem ich mehr Erfahrungen gesammelt hatte. Es ist etwas anderes als auf dem Spielfeld. Man steht unter Druck, weil man sich die Dinge auf einem Bildschirm ansieht und die Wiederholungen verfolgen kann, während man als Schiedsrichter auf dem Platz diese Möglichkeit nicht hat. Die Leute sind dort etwas toleranter, wenn man einen Fehler macht", erklärt sie.

"Als VMO muss man in der Lage sein, sich das Video anzusehen, schnell zu analysieren und dann zu entscheiden. Im Video-Überprüfungsraum kann man sich sehr leicht festfahren, aber man muss wirklich dazu im Stande sein, die Überlegungen, die wir alle als Schiedsrichter-Assistenten und Schiedsrichter auf dem Spielfeld lernen, zu berücksichtigen, und zu verstehen welche Blickwinkel man braucht. Aber dann muss man auch in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen. Eine meiner Stärken ist, dass ich es als Spitzenschiedsrichterin beherrsche, den Stecker zu ziehen und eine Entscheidung zu treffen. Natürlich will man ein korrektes Ergebnis, aber wir wollen nicht, dass jede Videoüberprüfung fünf Minuten dauert. Das ist nicht im Sinn des Spiels."

Previews - FIFA Women's World Cup France 2019 - 14-Jun, 2019

Der Fussball hat großen Anteil daran, dass es Chenard geschafft hat, in neuer Rolle zum größten Frauensport-Event der Welt zurückzukehren. Er hat ihr Kraft im Kampf gegen das Unbekannte gegeben. Schon früh in ihrer Schiedsrichterkarriere hat sie gelernt, das Kontrollierbare zu kontrollieren. Kontrolliere das, was du kontrollieren kannst, war der Ansatz, den sie verfolgte, als sie ihre Krebsdiagnose erhielt.

"Ich habe versucht, mir keine Gedanken über die Dinge zu machen, die ich nicht kenne. Es ist sehr schwierig, wenn man auf die Diagnose wartet und wissen will, wie es weitergeht. Sobald ich einen Plan für mich hatte, hat dies einen großen Unterschied gemacht. Ich bin sehr handlungsorientiert", beschreibt die beeindruckende Powerfrau.

"Meine erste Chemotherapie hatte ich am 7. Juni, dem Auftakt der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2019. Ich machte meine Chemo und sah mir das Eröffnungsspiel an, das in meinem Herzen das Spiel war, das ich machen wollte. An dem Tag, an dem ich die Diagnose erhielt, wusste ich, dass ich Frankreich verpassen würde. In meinem Kopf sagte ich: Ich fahre nach Tokio; mein Ziel ist Tokio. Das war, bevor ich wusste, was auf mich zukommt und wie mein Körper reagieren würde. Ich denke, wenn man ein Ziel hat, und das habe ich auch im Fussball gelernt, kann man darauf hinarbeiten. Ich glaube, es hat mir sehr geholfen, zu kontrollieren, was ich kontrollieren kann, mich mit tollen Leuten zu umgeben, ein Ziel zu haben und dieses nicht aus den Augen zu verlieren."

Ich habe mich mit großartigen Menschen umgeben. Die Schiedsrichtergemeinde nahm sich die Zeit, mir Videos und Nachrichten zu schicken - das waren Frauen beim größten Turnier ihres Lebens! Sie nahmen sich die Zeit, um mich zu unterstützen.

Carol Anne Chenard

Ein Ziel hat die "Profi-Abenteurerin", wie sich Chenard auf ihrem Twitter Account selbst bezeichnet, auch nach dem globalen Kräftemessen im Frauenfussball weiter fest im Visier.

"Der Fussball hat es mir ermöglicht, die Welt zu sehen. Als ich noch Eisschnellläuferin war, konnte ich reisen und die Welt sehen, aber der Fussball hat es mir wirklich ermöglicht, in fast alle Ecken der Welt zu gehen und Menschen zu treffen. Das möchte ich fortsetzen. Ich war noch nie in Australien, es ist einer der wenigen Orte, an denen ich noch nicht war. Ich freue mich sehr auf unsere Zeit dort. Danach werde ich weiter reisen, Menschen treffen, junge Schiedsrichter und junge Kinder. Ich werde in Schulen gehen und Menschen ermutigen, die Welt zu sehen."