Montag 01 Juni 2020, 15:00

Rueda: "Wir hoffen, mit Chile wieder den alten Status erreichen zu können"

  • Reinaldo Rueda möchte mit Chile auf die Weltbühne zurückkehren

  • Der 63-Jährige hat dieses Ziel bereits mit Honduras (2010) und Ecuador (2014) erreicht

  • Bei seinem ersten großen Turnier mit La Roja, der Copa América 2019, landete Chile auf Platz vier

"Das war ein sehr harter Schlag für alle."

Normalerweise wäre Chile um diese Zeit längst in die Südamerika-Qualifikation für die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022™ gestartet. An den ersten beiden Spieltagen hätten im März ein Auswärtsspiel gegen Uruguay und dann ein Heimspiel gegen Kolumbien auf dem Programm gestanden. Doch der internationale Fussball musste aufgrund der Pandemie pausieren, und nun wartet Reinaldo Rueda mit seinem Team darauf, dass es weitergeht. Nachdem Chile 2017 noch im Endspiel des FIFA Konföderationen-Pokals gegen Deutschland stand, konnte man sich überraschend nicht für die ein Jahr später in Russland stattfindende FIFA Fussball-WM™ qualifizieren.

"Hoffentlich geht es mit dem Fussball bald weiter. Wir brauchen ihn", so der aus Kolumbien stammende Trainer. Trotz der Einschränkungen sind der Trainer und sein Stab in Zeiten der Quarantäne nicht weniger aktiv. Jetzt gilt es zu planen, sich über die sportliche und private Situation seiner Nationalspieler auf dem Laufenden zu halten und an Fussball-Foren und Workshops teilzunehmen. Auch einige alte Hobbys hat er wiederentdeckt.

Darüber hinaus nimmt er sich Zeit für ein Gespräch mit FIFA.com. Gesprächsthemen sind unter anderem die geplante Rückkehr Chiles auf die Weltbühne, der Generationenwechsel, der im Team bereits eingeleitet wurde, sowie seine Favoriten in der Qualifikation für Katar 2022. Rueda gilt als Experte im Wiederbeleben von Mannschaften und steht vor einer spannenden Herausforderung, über die er im Exklusiv-Interview mit uns spricht.

Herr Rueda, wie geht es Ihnen in dieser Zeit ohne Fussball?

Das ist eine ganz neue Lebenserfahrung! Vorher habe ich im Alltag mehr Zeit mit dem Trainerstab verbracht. Ich bin im Trainingszentrum mit den unterschiedlichen Abteilungen zusammengekommen, wir haben gemeinsam geplant, sind Arbeitsmaterial durchgegangen, haben die Trainingseinheiten vorbereitet, Videos bearbeitet. Jetzt machen wir das alles online. Und dann kommen Ausbildungsseminare hinzu, Lesen, etwas Bewegung zum Stressabbau, Hilfe im Haushalt ...

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Nutzen Sie die Zeit zu Hause für bestimmte Dinge, zu denen Sie vorher nicht gekommen sind?

Ich verbessere mein Englisch und widme auch dem Akkordeon wieder etwas Zeit. Ich hatte schon als Kind eine Schwäche für unsere Folklore in Kolumbien, den Vallenato. Leider haben sich meine Nachbarn beschwert [lacht]. Jetzt habe ich einige Vorkehrungen getroffen und schließe Fenster und Türen, wenn ich spiele.

Wie ist der Kontakt zu den Spielern?

In den ersten Wochen haben wir uns vor allem um die Spieler gekümmert, die in Europa aktiv sind, sie nach ihrem Gesundheitszustand befragt und ihnen alles Gute gewünscht. Später haben wir dann allen ganz kurze Videos zur Taktikauffrischung und Stärkung des Selbstbewusstseins geschickt, in denen wir die guten Momente mit der Nationalmannschaft in Erinnerung gerufen haben – mit viel Rücksicht auf die Klubs, denn jeder hat da seine eigene Dynamik.

Eigentlich sollten Sie jetzt mit dem Team mitten in der Qualifikation stecken, aber stattdessen ist Warten angesagt. Wie wirkt sich die Zwangspause auf das Team aus?

Das ist wirklich traumatisch, weil wir schon seit sechs oder sieben Monaten kaum Kontakt zu den Spielern haben. Hinzu kommt, dass es hier in Chile von Oktober bis Dezember keine Wettbewerbe gab – die Freundschaftsspiele im November wurden wegen der sozialen Proteste ausgesetzt.

Jetzt hängt alles davon ab, wann die Ligen den Spielbetrieb wieder aufnehmen. Nach so langer Inaktivität wird es schwer sein, wieder in den Rhythmus zu kommen, auch wenn die Spieler und Trainerstäbe alles versucht haben, die Fitness aufrechtzuerhalten. Und dann ist da noch der psychologische Aspekt, wenn es darum geht, ein ideales Wettkampfniveau zu erreichen. Wir müssen dabei auf dem aufbauen, was die Klubs tun, bei denen unsere Nationalspieler unter Vertrag stehen.

Fürchten Sie, dass diese Zwangspause sich besonders für die Mitglieder der "goldenen Generation" negativ auswirken könnten, die schon etwas älter sind?

Das ist schon hart, aber sie sind sehr optimistisch. Chilenische Spieler haben in der Regel eine lange Karriere. Genau wie ein guter Wein werden sie mit zunehmendem Alter reifer und gesetzter. Trotzdem muss man realistisch bleiben und sehen, dass dieser Beruf auch seinen Tribut fordert. Sechs Monate sind für einen 26-Jährigen beispielsweise etwas anderes als für einen 35- bis 36-Jährigen. Das wirkt sich schon aus.

Wir müssen hoffen, dass unsere Topspieler gesund bleiben und bei ihren Klubs zum Einsatz kommen, denn vor allem die im Ausland aktiven Spieler haben Schwierigkeiten, einen Stammplatz zu bekommen.

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Eines der Ziele Ihres Projekts ist die Einleitung des Generationswechsels. Planen Sie, Arturo Vidal, Gary Médel, Alexis Sánchez und Co. zu schonen?

Wir brauchen sowohl das Wissen und die Erfahrung unserer großen Stars, als auch die Kraft und Begeisterung der jungen Spieler, um ein ausgewogenes Nationalteam zusammenzustellen. Genau das ist der Weg, den wir schon letztes Jahr bei der Copa América eingeschlagen haben, wo Nachwuchsspieler wie Paulo Díaz, Erick Pulgar, Edgar Pasos zum Einsatz gekommen sind.

Wir müssen abwarten, wie es mit dem Fussball weitergeht, welche Spieler am besten in Form sind und den Weg nach Katar mit denen planen, die den Herausforderungen einer WM am besten gewachsen sind. Im Augenblick ist es schwer, sich auf Strategien festzulegen, aber ich schließe nicht aus, dass ich jungen Spielern eine Chance geben und gleichzeitig die Reife und Erfahrung der Führungsspieler nutzen werde. Wir müssen ein Vermächtnis hinterlassen und die Saat für die unmittelbare Zukunft des chilenischen Fussballs legen.

Wo wir gerade über Routiniers sprechen: Letztes Jahr ist Claudio Bravo ins chilenische Nationalteam zurückgekehrt. Ändert sich die Spielweise mit einem Spieler von seinem Format?

Ja, daran gibt es keinen Zweifel. Es ist schon beeindruckend, welchen Einfluss Claudio Bravo mit seiner Vorgeschichte im Nationalteam und seiner Spielintelligenz hat. Wir mussten aufgrund seiner Verletzung, einem Achillessehnenriss, ein ganzes Jahr auf ihn verzichten und hoffen nun, dass er auch weiterhin all seine Fähigkeiten und sein Talent einbringen kann. Wenn das so ist, wird er eine entscheidende Rolle spielen. Darauf hoffen wir. Niemand möchte das Nationalteam verlassen, und darum wird es letztendlich gehen. Ich hoffe, dass wir ihn in Katar zwischen den Pfosten stehen sehen.

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Sie gelten als Spezialist dafür, Teams auf die Weltbühne zurückzuführen. Mit Honduras (2010) und Ecuador (2014) ist es Ihnen bereits gelungen. Nun soll Chile folgen. Ist diese Herausforderung für Sie besonders attraktiv?

Das ist eine sehr große Herausforderung, denn die Tatsache, dass sich eine Generation, die dem Land so viel Freude bereitet hat, nicht für Russland qualifizieren konnte, hat Spuren hinterlassen. 2018 war ein harter Schlag für die Menschen in Chile, und wir wollten dieses Trauma lindern. Zunächst einmal mussten Spieler und Fans sich mental davon erholen und wieder an ihren Fussball glauben. Wir hoffen, mit Chile wieder den Status erreichen zu können, den das Land in den letzten Jahren hatte.

Die Südamerika-Qualifikation ist sehr schwer. Das liegt an der Vielzahl von Talenten, die dort antreten, an den komplexen geographischen Gegebenheiten und an den Teams selbst, die alle sehr ausgewogen, sehr stark sind. Hier gibt es kein 13:0 oder ähnlich hohe Ergebnisse.

Wagen Sie eine Prognose dazu, welche Teams sich für Katar qualifizieren werden?

Wir können uns an dem orientieren, was bei der Copa América passiert ist, wobei ich nicht weiß, wie aussagekräftig ein Kurzturnier ist. Beispielsweise ist eine Fussballmacht wie Uruguay nicht unter den ersten vier gelandet. Alle Teams liegen sehr eng beieinander, aber einmal abgesehen von unserer Mannschaft bewundere ich die gute Arbeit, die gerade in Argentinien geleistet wird. Bei der Copa América waren 14 Spieler des 23-köpfigen Kaders Neulinge mit viel Zukunftspotenzial, Spieler, die sich in der Elite etabliert haben und in den wichtigsten Ligen antreten. Und dann wären da noch Uruguay, Brasilien und Kolumbien. Diese vier Länder verfügen über einen großen Spielerpool, aus dem sie schöpfen können, und leisten sehr gute Arbeit.