Samstag 11 September 2021, 07:00

TSG: Die Experten Dell und Rodrigo laufen sich warm

  • Auftakt zur FIFA Futsal-Weltmeisterschaft Litauen 2021 am 12. September in Kaunas und Vilnius

  • Die FIFA Futsal-Ausbilder Graeme Dell und Miguel Rodrigo im Gespräch

  • Sie beschreiben die Entwicklung der Sportart und verraten, was man wissen muss, um das Spektakel zu genießen

Wenige Stunden vor dem Anpfiff der neunten FIFA Futsal-Weltmeisterschaft™ hat Gastgeber Litauen das Futsal-Fieber gepackt. Kein Wunder, musste man doch ein Jahr länger als gedacht darauf warten, die Sportart hautnah erleben zu können. Auch für den Engländer Graeme Dell und den Spanier Miguel Rodrigo als Futsal-Ausbilder der FIFA hat die Verschiebung des Turniers aufgrund der COVID-19-Pandemie zu einem zusätzlichen Jahr Wartezeit geführt, bis sie die Entwicklung des Futsal und die Entwicklung der Sportart als solches seit der Weltmeisterschaft 2016 in Kolumbien beurteilen konnten. 

Seinerzeit brach Argentinien die Vorherrschaft Brasiliens und Spaniens, die sich die letzten sieben Weltmeistertitel geteilt hatten. Ist die Krönung eines neuen Weltmeisters auch 2021 denkbar? Wie kann man das Beste aus dem prestigeträchtigsten Wettbewerb dieser spektakulären Sportart machen, die einige vielleicht erst in Litauen entdecken, und sie so richtig genießen? Darüber und über vieles mehr diskutieren unsere Experten.

Graeme, Miguel, was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Entwicklungen in diesem Sport seit der Einführung der FIFA Futsal-Weltmeisterschaft vor 32 Jahren?

Graeme Dell: Aufschlüsse darüber erhoffen wir uns durch die Arbeit der TSG während dieser Weltmeisterschaft. Mein Interesse gilt den technischen Fortschritten, die seit 2016 erzielt wurden. Wir hoffen, dass der Sport weiter wächst. In jedem Vierjahreszyklus entwickeln sich sowohl die Spieler als auch die Trainer weiter. Es wird interessant sein, neue Trends zu beobachten, da die Weltmeisterschaft in der Regel die Richtung für den kommenden Zeitraum vorgibt. Wir müssen die aktuellen Trends auch als Vorbereitung auf die nächsten 20 Jahre sehen und sicherstellen, dass wir uns weiterentwickeln. Miguel Rodrigo: In erster Linie gibt es eine Globalisierung des Wissens. Das Internet und die vielen YouTube-Kanäle haben mehr Videoanalysen und mehr Scouting ermöglicht und dafür gesorgt, dass Futsal auf der ganzen Welt wahrgenommen wird. Dank der Sozialen Medien haben viele Länder, in denen es zuvor keinen Futsal gab, diesen Sport mit seinen technischen und taktischen Aspekten entdeckt. Darüber hinaus zog es viele spanische und brasilianische Trainer hinaus in die Welt. Dadurch konnten etwa die asiatischen Ligen ihr Niveau verbessern, aber eben auch die einzelnen Trainer vor Ort. Ferner haben sich viele brasilianische, portugiesische und spanische Spieler asiatischen Ligen oder Ligen im Nahen Osten angeschlossen. Und ein weiterer Punkt ist das große Interesse der FIFA an diesem Sport, samt der Organisation von Weltmeisterschaften. Die Öffentlichkeit entdeckt dadurch eine äußerst spektakuläre Sportart. Diverse Spielerpersönlichkeiten wie Falcão, Ricardinho, Kike, Paulo Roberto, Daniel oder Sergio Lozano haben es diesem Sport ermöglicht, seine eigenen Idole und Vorbilder zu haben. Das ist ganz wichtig. 

Bislang sind nur drei Mannschaften überhaupt Weltmeister geworden: Argentinien, Brasilien und Spanien. Ist Futsal also eine geschlossene Gesellschaft von Ländern mit entsprechender Tradition, oder findet dort gerade eine Öffnung statt? G.D.: Was wir bei den letzten Turnieren gesehen haben, insbesondere den Triumph Argentiniens, zeigt, dass es neue Anwärter gibt, die die traditionellen Größen Brasilien und Spanien herausfordern. Eine der Erkenntnisse aus dieser Weltmeisterschaft wird sein, wie weit die sich entwickelnden Nationen, diese Länder aus der zweiten Reihe, in den letzten fünf Jahren vorangekommen sind. Wenn es nach uns geht, hoffen wir natürlich, das künftig viele Länder aus der ganzen Welt um den Titel mitspielen. Das wird zugleich eine Gelegenheit sein, zu sehen, welche Arbeit Spanien und Brasilien geleistet haben, um trotz dieser globalen Entwicklung an der Spitze zu bleiben. Dabei darf man inzwischen auch Argentinien nicht vergessen. Für den Sport als solches wäre es jedoch gut, wenn die Titelfrage nicht zwischen zwei oder drei Mannschaften entschieden würde. Je mehr Mannschaften, desto besser. M.R.: Ich habe die Weltmeisterschaft 2016 mit Thailand ja noch selbst bestritten. Und wenn sich eines geändert hat, dann, dass von dieser WM das Signal ausging, dass der Titel offen ist. Zusammen mit den genannten Faktoren hat dies dazu geführt, dass weitere Länder zu den Anwärtern auf den Titel gehören. Ich bin mir natürlich nicht sicher, aber ich könnte wetten, dass Spanien oder Brasilien bei dieser Weltmeisterschaft nicht im Endspiel stehen werden. Es würde das Signal bestätigen, das wir in Kolumbien erhalten haben: dass es jetzt sechs oder sieben Kandidaten für den Titel gibt, und das ist das Beste, was unserem Sport passieren kann.

Wie viel ist im Futsal Taktik, wenn man bedenkt, dass mit nur fünf Spielern die Möglichkeiten und die Flexibilität begrenzt scheinen? G.D.: Die allgemeine Wahrnehmung ist, dass es nicht viele Möglichkeiten gibt, richtig. Aber das täuscht! Wer das Spiel aus technischer Sicht begriffen hat, dem bieten sich viele Möglichkeiten. Die Herausforderung für Trainer und Spieler besteht in Situationen, in denen sie das Spiel verstehen und Strategien anwenden müssen, die spezifische technische Fähigkeiten erfordern. Ich habe in den letzten Jahren bei mehreren Wettbewerben beobachtet, dass Trainer versucht haben, Spieler in ein taktisches Schema zu pressen, zu dem sie nicht in der Lage sind. Es ist taktisch viel wirksamer, Spieler mit einer guten Technik zu haben. In gewisser Weise kann das Spiel darunter leiden, dass Trainer zu viel oder zu wenig Neues wagen. Ganz sicher aber leidet es, wenn Spieler technisch limitiert sind. Wir als Weltverband müssen deshalb so viel Unterstützung wie möglich bieten, um die technischen Fähigkeiten der Spieler und das taktische Verständnis der Trainer in allen Regionen der Welt zu fördern. M.R.: Das wäre der erste Gedanke, der jemandem in den Sinn kommt, der nur Fussball gesehen hat oder nur wenig über Futsal weiß. Es stimmt natürlich, dass es im Fussball mit elf Spielern viele Kombinationen gibt und dass es neben dem System auch viel spontanes, freies Spiel gibt. Fussballspieler lieben Freiheiten und keine Systeme. Bei nur fünf Spielern scheint Futsal, ebenso wie Basketball oder Handball auf den ersten Blick taktisch und kombinationstechnisch nicht so variantenreich. Aber dem gegenüber steht eben das hohe taktische Niveau und der Schwierigkeitsgrad des raschen Denkens, der Handlungsschnelligkeit. Das Spiel ist äußerst komplex, weil man sehr schnell und vor allem mit viel Risiko entscheiden muss. Tore fallen Schlag auf Schlag. Fehler werden fast immer bestraft. Anders im Fussball. Da hat man meist den Raum und die Zeit, sich neu zu ordnen, zurückzulaufen, zu korrigieren.

FIFA Futsal Instructor Graeme Dell

Was würden Sie Zuschauern, die zum ersten Mal Futsal sehen, vor Beginn des Turniers 2021 raten, damit sie Spaß haben? G.D.: Sie werden wahrscheinlich überrascht und beeindruckt sein von der Geschwindigkeit des Spiels und der Abfolge von Angriffen, Gegenangriffen und Abwehraktionen. Aber ich empfehle sehr, darüber hinaus auf die Spieler zu achten, die nicht am Ball sind. Der Spieler, der den Ball hat, steht im Mittelpunkt des Interesses und ist das Herz des Geschehens, aber wir neigen dazu, die Wirkung der anderen vier Spieler zu übersehen. M.R.: Kindern würde ich raten, sie sollen sich die einzelnen Aspekte der Technik ansehen. Die Spieler müssen auf engstem Raum und in kürzester Zeit verschiedenste Aufgaben lösen: Passen, Schießen oder Dribbeln. Lassen Sie die Kinder diesen großen Spielern zusehen, damit sie es danach selbst nachmachen, ob nun im Fussball oder im Futsal. Erwachsene, die den Sport noch nicht kennen, sollten darauf achten, wie schnell er gespielt wird. Achten Sie auf das Tempo der Gegenangriffe, der Eins-gegen-Eins-Situationen, der Schüsse. Achten Sie auf die Kreativität, sich aus einer Problem- oder Drucksituation zu befreien. Achten Sie auf die Kunst, in so schwierigen Bereichen wie vor dem Tor abzuschließen, und das bei so guten Torhütern. Da die Spieler in der Lage sind, etwa am Ohr vorbei, auf Armhöhe oder zwischen den Beinen hindurch zu schießen, müssen sie in der Lage sein, genau diesen einen Punkt anzuvisieren und blitzschnell zu handeln.