Montag 20 Mai 2019, 07:34

Seedorf: "In Kamerun ein Vermächtnis hinterlassen"

  • Clarence Seedorf über seine Herausforderung als Nationalcoach von Kamerun

  • Der niederländische Ex-Nationalspieler blickt voraus auf seine erste Afrikameisterschaft

  • Freude über die jüngsten Erfolge von Ajax und Oranje

Als Spieler glänzte Clarence Seedorf auf den großen Fussballbühnen dieser Welt. Nun steht er vor seiner bis dato größten Herausforderung als Trainer.

Seit August 2018 ist Seedorf Cheftrainer der kamerunischen Nationalmannschaft. In Kürze steht die Reise nach Ägypten zum CAF Afrikanischen Nationen-Pokal auf dem Programm. Dort treten die Unzähmbaren Löwen als Titelverteidiger an.

Doch der Weg dahin war nicht einfach: Nach der verpassten Teilnahme an der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Russland 2018™ sollte Afrikas Kontinentalmeisterschaft in diesem Juni eigentlich in Kamerun stattfinden. Im November dann wurde dem Land jedoch die Gastgeberrolle für das Turnier 2019 entzogen. Daraufhin sprang Ägypten als Ausrichter ein. Für Clarence Seedorf und sein Team änderten sich dadurch schlagartig die Voraussetzungen: Die Mannschaft hatte nur noch ein entscheidendes Spiel, um sich einen Platz unter Afrikas besten 24 Mannschaften zu sichern. Dank eines 3:0-Erfolges über die Komoren gelang schließlich die Qualifikation für den Wettbewerb.

Im Interview mit FIFA.com spricht Clarence Seedorf über die ersten neun Monate seiner Amtszeit, seine Eindrücke von Afrika und über die jüngsten Erfolge von Ajax Amsterdam sowie der niederländischen Nationalmannschaft.

FIFA.com: Clarence Seedorf, Sie sind nun neun Monate im Amt. Was sagen Sie zu diesen ersten neun Monaten? Seedorf: Nach all den Entwicklungen rund um die Austragung des CAF Afrikanischen Nationen-Pokals war unsere Qualifikation in letzter Minute schon eine nervenaufreibende Sache. Wir mussten gegen die Komoren gewinnen. Doch das Ergebnis bestätigt, dass sich unsere harte und intensive Arbeit bis dahin ausgezahlt hat. Dass wir am Ende punktgleich mit Marokko, einem der Top-Favoriten auf den Gewinn des Nationen-Pokals, bei einer um zwei Treffer schlechteren Tordifferenz dastehen, sagt viel über unsere Leistungen in den anderen Spielen aus. Wir haben uns wirklich gut vorbereitet.

Nachdem Kamerun kurzfristig die Ausrichtung des Turniers entzogen wurde, standen Sie vor einer ganz besonderen Herausforderung. Mussten Sie Ihre Mannschaft vor dem abschließenden Spiel neu einstellen? Ich habe meinen Spielern von Anfang an gesagt, dass ich Gruppenerster werden möchte. Sie wussten, wie wichtig jedes einzelne Spiel und jede einzelne Trainingseinheit sind. Sie wussten auch, dass sie jeden Tag die Chance haben, sich bestmöglich zu präsentieren. Diese Einstellung konnten wir über Monate hinweg aufbauen. Die letzten beiden Spiele gegen Brasilien und die Komoren unterstreichen, dass die Mannschaft die richtige Mentalität hat. Wir haben in beiden Partien sowohl technisch als auch taktisch gute Leistungen gezeigt.

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Es gab Gerüchte über ein Engagement bei Real Madrid. Dazu steht die Arbeit als Nationaltrainer Kameruns doch ein wenig im Gegensatz. Wie kam es dazu, dass Sie das Traineramt beim amtierenden Afrikameister übernommen haben? Natürlich ist es immer eine Ehre, mit Teams wie Real Madrid in Verbindung gebracht zu werden. Doch hier wartete die große Herausforderung, ein Team innerhalb kürzester Zeit auf Kurs zu bringen, ohne lange Vorbereitung. Dieser Prozess war sehr spannend. Kamerun zählt traditionell zu den besten Mannschaften Afrikas und die verpasste Teilnahme an der WM 2018 in Russland war für das Land eine riesige Enttäuschung. Danach begann ein veritabler Umbau – das Team wurde neu zusammengestellt und es ging darum, sich auf internationaler Ebene wieder Respekt zu verschaffen. Das ist uns meiner Meinung nach durch gute Leistungen gelungen.

Beim anstehenden CAF Afrikanischen Nationen-Pokal machen sich viele Teams Hoffnungen auf den Gesamtsieg. Glauben Sie, Kamerun hat das Zeug dazu, den Titel zu verteidigen? Kamerun hat immer das Zeug dazu. Wir sind in einer guten Verfassung und die Dinge entwickeln sich positiv. Das müssen wir in den Spielen dann natürlich auch zeigen. Doch in Ägypten wird es für keine Mannschaft leicht, gegen Kamerun anzutreten.

Sie sind als Spieler und als Trainer schon viel in der Welt herumgekommen. Wie ist es, als Coach in Afrika zu arbeiten? Ähnlich wie in Brasilien kommt den Spielern ein hoher Stellenwert zu. Sie genießen bei der Bevölkerung enormes Ansehen. Sie sind echte Idole und Vorbilder. Wenn die Nationalmannschaft spielt, steht das öffentliche Leben im Land still. Gleichzeitig spricht der Fussball überall dieselbe Sprache und am Ende kommt es überall auf die gleichen Dinge an.

Sie haben nun bekannte Fussballnationen wie Marokko und Kamerun, aber auch kleinere Länder wie Malawi oder die Komoren kennen gelernt. Was für ein Gefühl ist es, diese neuen Fussballkulturen zu entdecken? Neben den kulturellen Erfahrungen habe ich nun endlich Gelegenheit, Afrika zu sehen, Afrika zu spüren und in Afrika zu leben. Zwar gibt es hier noch immer zahlreiche Probleme, doch der Kontinent hat ein unglaubliches Potenzial und Talent – und er sprüht vor Energie. Ich genieße es sehr, all diese Länder kennen zu lernen und empfinde es als Privileg, Afrika bereisen und hier arbeiten zu dürfen.

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Begleitet werden Sie dabei von Patrick Kluivert, den Sie schon seit über 25 Jahren kennen. Wie funktioniert Ihre Zusammenarbeit auf der Bank? Wir haben gemerkt, dass wir ein richtig gutes Duo bilden. Wir verstehen und ergänzen uns hervorragend. Die Chemie zwischen uns passt einfach und unsere Zusammenarbeit ist fantastisch. Wir hoffen, dass es lange so weitergeht. Vielleicht können wir in Afrika und eines Tages auch in Europa noch mehr bewirken.

Sie beide standen einst bei Ajax Amsterdam in einer Mannschaft. Derzeit erlebt Ihr ehemaliger Klub eine Renaissance auf internationalem Parkett und knüpft an die Erfolge zu Ihrer Zeit an. Wie haben Sie die jüngsten Ergebnisse Ihrer Nachfolger in der Champions League erlebt? Für den Fussball ist es eine gute Sache, dass andere Klubs und neue Spieler ins Rampenlicht rücken. Natürlich spielen die Tradition und vergangenen Erfolge des Klubs eine Rolle: Ajax und Liverpool konnten die Champions League bereits vier bzw. fünf Mal gewinnen. Die aktuelle Ajax-Mannschaft hat eine gute Mischung aus jungen und erfahrenen Spielern. Diese Kombination spornt die Jungen zu absoluten Bestleistungen an. Amsterdam zeigt aktuell wieder diesen ganz besonderen Ajax-Spirit. Das gefällt mir.

Und diese hoffnungsvollen Talente tragen nun auch das Trikot der niederländischen Nationalmannschaft. Wie bewerten Sie die jüngsten Erfolge der Elftal? Meiner Meinung nach spielt der allgemeine Trainingsansatz eine wichtige Rolle: Gelingt es den Verantwortlichen, das richtige Umfeld zu schaffen, damit die Spieler zu Bestleistungen auflaufen? Lässt sich eine verschworene Einheit bilden, die auf dem Platz zusammenhält und gute Ergebnisse erzielt? Gelingt eine gesunde Mischung aus Konkurrenzkampf und gegenseitiger Unterstützung? Ich denke, Ronald Koeman hat genau diese Fragen zurück auf die Agenda gebracht. Er leistet richtig gute Arbeit. Alles scheint zu passen und ich hoffe, dass sich sowohl Ajax als auch die niederländische Nationalmannschaft weiter positiv entwickeln werden. Auf die nächsten Jahre dürfen wir sicherlich gespannt sein.

Kam der Einbruch nach der Vizeweltmeisterschaft 2010 und Platz drei 2014 für Sie überraschend? Man braucht immer einen Plan und Trainer, die das Ganze in eine bestimmte Richtung lenken. So wie ich das beurteilen kann, war das vor einigen Jahren nicht der Fall. Manchmal können die Ergebnisse auch blenden und den wahren Zustand verbergen. Louis van Gaal hat (2014) großartige Arbeit geleistet und aus der Mannschaft mehr herausgeholt, als man ihr eigentlich zugetraut hätte.

Bei der WM 1998 in Frankreich waren Sie Teil einer herausragenden Mannschaft. Ein Großteil stammte wie Sie von Ajax. Betrachten Sie das Turnier im Nachhinein als verpasste Chance? Die Mentalität der Niederlande ist es bis heute, lieber schön zu spielen als zu gewinnen. Das habe ich immer kritisiert – hier muss man meiner Meinung nach ansetzen. Was mir beispielsweise am aktuellen Team von Ajax gefällt, ist, dass es bei Problemen das Schönspielen abstellt und den Ball auch mal nach vorn oder übers Stadiondach schlägt. Die Mannschaft kann also auch pragmatisch agieren.

Natürlich wollen alle attraktiven Fussball spielen. Doch wir müssen auch der Realität ins Gesicht blicken: Italien hat vier WM-Titel, Holland keinen. Welche Mentalität ist also erfolgversprechender? Natürlich soll man einem Team nicht die Identität nehmen, darum geht es nicht. Man muss immer guten Fussball spielen und seiner eigenen Philosophie treu bleiben. Doch in unserem Sport gibt es eben auch einen Gegner, der das geplante Spielkonzept durchkreuzen kann. Was macht man dann? Bei dieser Frage haben die Niederlande noch jede Menge Potenzial nach oben.