Mittwoch 15 September 2021, 13:00

Ferrão: Im Tischtennis war ich besser als Falcão

  • Ferrao wurde bereits zwei Mal zum besten Futsal-Spieler der Welt gewählt

  • Der Pivot spricht über sein fantastisches Debüt bei der FIFA Futsal-WM

  • Er äußert sich auch zu Brasiliens Titelhoffnungen und scherzt über seine Tischtennis-Duelle mit Falcao

Carlos Vagner Gularte Filho erinnert sich noch, wie er das dramatische Ende der FIFA Futsal-WM Thailand 2012 erlebte. Er eilte nach einer Trainingseinheit bei arktischen Temperaturen in Sibirien nach Hause, warf sich auf der Couch zwei Extralagen Kleidung über und sah zu, wie Falcao mit einem Treffer für die Verlängerung sorgte und wie Neto das entscheidende Tor zum Sieg für Brasilien gelang.

In diesem Moment träumte Carlos davon, was es wohl für ein Gefühl wäre, Falcao zu sein. Der große Ruhm und das große Geld? Obgleich er kaum genug Rubel verdiente, um über die Runden zu kommen, war dies dem 22-Jährige Pivot-Spieler eher gleichgültig. Die Trophäe der FIFA Futsal-Weltmeisterschaft™ in Händen halten? Diesen Traum konnte er allerdings nicht abschütteln, als er am Abend versuchte, einzuschlafen.

"Ich war damals ein Niemand", sagte er gegenüber FIFA.com. "Ich hatte noch nie für einen großen Klub gespielt und noch keine Titel gewonnen. Niemand kannte meinen Namen. Viele andere Spieler meines Kalibers haben es nie geschafft. Aber ich habe stets daran geglaubt, dass ich es zur WM schaffen kann."

Fast 31 Jahre lang musste Ferrao (portugiesisch für "Stachel") warten, doch am Montag wurde sein großer Traum wahr. Und er hielt sich für die verlorene Zeit schadlos. Bei seinem begeisternden Debüt bei der FIFA Futsal-WM Litauen 2021 bereitete er das erste Tor für Rodrigo vor, dem er beim Titelgewinn Brasiliens in Bangkok zusah, und erzielte selbst vier Treffer beim 9:1-Sieg gegen Vietnam.

Der Star von Barcelona und zweimalige beste Futsal-Spieler der Welt sprach mit FIFA.com über diese Leistung, die Titelhoffnungen der Seleção, den Wunsch, einen Rekord von Ricardinho zu brechen, Tischtennis-Duelle mit Falcao sowie den Samba in der brasilianischen Umkleidekabine.

FIFA.com: Können Sie das Gefühl beschreiben, nun endlich bei der FIFA Futsal-Weltmeisterschaft™ zu spielen? Ferrao: Es war ein unglaubliches Gefühl. Futsal ist mein Leben, solange ich denken kann, und so habe ich mein ganzes Leben lang von diesem Moment geträumt, davon, bei der Weltmeisterschaft zu spielen und für Brasilien anzutreten. Ich habe viel an meine Familie gedacht. Ich hatte die Nationalhymne schon so oft [bei anderen Spielen] gehört, aber sie bei der Weltmeisterschaft zu hören, war etwas ganz Anderes. Da hat mein Herz wirklich geklopft. Das war ein sehr emotionaler Moment. Sie müssen mit Ihrer eigenen Leistung und der Brasiliens zufrieden sein, richtig? Der Auftakt zu einer Weltmeisterschaft ist immer sehr schwierig. Selbst eine großartige Mannschaft kann zu Beginn leicht ins Wanken geraten, was sich dann auf das gesamte Turnier auswirkt. Zum Glück haben wir das erste Tor erzielt, das sehr wichtig war, und danach haben wir wirklich gut gespielt. Dass wir mit einem Sieg und einer guten Leistung ins Turnier gestartet sind, hat unsere Nerven beruhigt und uns Selbstvertrauen gegeben. Ich persönlich war vor dem Spiel sehr aufgeregt. Dass ich als Pivot zum Auftakt vier Tore erzielt habe, hat mir natürlich sehr gut getan. Ich bin hier, um der Mannschaft auf jede erdenkliche Art und Weise zum Sieg zu verhelfen, aber wir alle wissen, dass von den Pivot-Spielern Tore erwartet werden, also bin ich wirklich zufrieden. Erfreulich ist auch, dass viele Spieler für die Seleção getroffen haben und dadurch Selbstvertrauen gewonnen haben. Doch dies war nur ein erster Sieg. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und denken bereits an die Tschechische Republik, von der wir wissen, dass sie ein sehr starker Gegner ist.

Das entscheidende erste Tor, das Sie erwähnten, entstand nach einem Doppelpass zwischen Ihnen und Rodrigo... Doppelpässe trainieren Rodrigo und ich sehr oft. Daran haben wir in unserem Abschlusstraining vor dem Spiel gearbeitet - wie ich den Ball zugespielt bekommen möchte, wie er es tut usw. Wir sind sehr gut aufeinander eingespielt, und zum Glück hat es heute geklappt. Hoffentlich können Rodrigo und ich in diesem Turnier noch mehr Doppelpässe erfolgreich abschließen. 

Sie waren gegen Vietnam überragend und haben vier Tore erzielt. Sind der Goldene Ball und der Goldene Schuh von adidas ein Ziel für Sie bei der WM hier in Litauen? Letztlich geht es darum, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Ich denke, wir alle empfinden das genauso. Das brasilianische Team wurde aufgebaut, um die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Wir wollen den Titel unbedingt wieder nach Brasilien holen. Natürlich freut sich jeder Spieler auch über individuelle Auszeichnungen, aber das Wichtigste ist, dass wir Weltmeister werden, und wenn wir das schaffen, bin ich mir absolut sicher, dass die individuellen Auszeichnungen an Spieler unseres Teams gehen werden, egal ob an mich oder andere Spieler.

Ricardinho wurde fünf Mal in Folge zum besten Spieler der Welt gewählt - ein Rekord. Sie selbst haben die letzten beiden Auszeichnungen gewonnen. Denken Sie darüber nach, mit ihm gleichzuziehen? Zweifellos. Was Ricardinho geschafft hat und was Falcao vor ihm geschafft hat, waren historische Meilensteine. Es ist unglaublich schwierig, ein so hohes Niveau zu halten und fünf Jahre in Folge als bester Spieler ausgezeichnet zu werden, wie es Ricardinho geschafft hat. Aber zwei Auszeichnungen habe ich immerhin jetzt auch schon. Ich hoffe sehr, dass ich darauf aufbauen kann. Es gibt keine bessere Bühne als die WM um zu zeigen, was man draufhat. Wenn ich Brasilien hier zum Titelgewinn verhelfen kann, dann dürfte ich wohl gute Chancen haben. Ihr Vater war Fussballer und spielte für Grêmio Porto Alegre. Haben Sie als Kind Futsal oder Fussball gespielt? Ich habe mit Futsal angefangen. Mein Vater brachte mich als Kind dazu. Ich habe auch eine Zeitlang Fussball gespielt, aber das hat nicht lange gedauert. Als Kind will man den Ball so viel wie möglich am Fuß haben, und beim Fussball muss man oft länger darauf warten. Daher habe ich Futsal schon immer bevorzugt, und obwohl mein Vater versucht hat, mich zum Fussball zu drängen, bin ich beim Futsal geblieben. Rückblickend bereue ich das keine Sekunde.

Heute spielen Sie für Barcelona und Brasilien und sind der beste Spieler der Welt, aber mit Anfang 20 verdienten Sie nicht viel Geld und lebten bei Temperaturen von minus 40°C in Sibirien. Haben Sie jemals ans Aufhören gedacht? Ich war nie an dem Punkt, an dem ich aufgeben wollte, denn ich wollte Futsal spielen, es war mein Traum. Ich habe mir gesagt, dass ich mir im Futsal einen Namen mache - das habe ich mir zum Ziel gesetzt. Natürlich war es am Anfang schwierig, aber wie man so schön sagt: Es ist nicht immer ein Zuckerschlecken. Mit 14 Jahren bin ich zu Hause ausgezogen und in eine andere Stadt gegangen, um Futsal zu spielen. Natürlich gab es schwierige Momente und Hindernisse, aber Gott sei Dank ging alles sehr schnell in meinem Leben. Mit 16 habe ich bereits professionell gespielt und mit 19 bin ich nach Russland gegangen. Die Anpassung war anfangs schwierig, wegen der Kälte, der Sprache und einer völlig anderen Kultur. Aber ich habe mich nach und nach angepasst, und jetzt betrachte ich die russische Liga und Russland als einen wichtigen Faktor für meine Entwicklung als Spieler und Mensch. 

Apropos Russland: Haben Sie den 9:0-Sieg der Russen gegen Ägypten gesehen? Ja, ich habe sie gesehen. Sie waren hervorragend, aber das war keine Überraschung. Ich habe vier Jahre in Russland gespielt. Ich kenne die meisten Spieler und weiß, dass sie herausragend sind. Es war schon vorher klar, dass sie bei dieser Weltmeisterschaft zu den Titelanwärtern gehören würden, und sie haben gezeigt, warum. Im Moment denken wir nur an den Sprung aus der Gruppenphase, und wir wissen, dass Russland eine große Gefahr für unsere Chancen ist.

Wie schätzen Sie die Chancen Brasiliens ein? Das ist eine neue Seleção, eine ohne Falcao, der Unglaubliches geleistet und Geschichte geschrieben hat. Ein solches Genie kann man nicht ersetzen, aber diese Mannschaft wurde für ein bestimmtes Ziel zusammengestellt: den Gewinn der Weltmeisterschaft. Wir alle sind in wirklich starker Form hier angekommen. Wir haben vier Spieler, die schon an einer Weltmeisterschaft teilgenommen haben - Guitta, Rodrigo, Dyego und Dieguinho. Guitta und Rodrigo wurden 2012 Weltmeister. Mit Marquinhos haben wir einen großartigen Trainer und mit Rodrigo einen großartigen Kapitän. Wir haben auf jeder Position großartige Spieler im Kader, die sehr gut zusammenspielen. Die Stimmung im Kader ist wirklich toll. 2016 hat Brasilien auch gut gespielt, ist aber im Sechsmeterschießen ausgeschieden, und das war's. Das war verheerend für den brasilianischen Futsal und Falcao hatte es nicht verdient, auf diese Weise zu gehen. Wir sind hier, um den Titel für Brasilien zurückzuholen. Wir sind fest entschlossen, es zu schaffen, und ich bin sehr zuversichtlich, was unsere Chancen angeht. Sie und Falcao haben die Mannschaft immer mit Tischtennis-Duellen unterhalten. Was tun Sie nun ohne Falcao, um sich abseits des Platzes zu entspannen? Falcao war einer der besten Futsal-Spieler der Geschichte, aber beim Tischtennis war ich der Bessere! Entschuldige, Falcao, aber ich habe dich vernascht! (lacht) Spaß beiseite, ich spiele Tischtennis, seit ich jung bin, ich liebe es, und wann immer wir Freizeit haben, versuche ich das zu tun. Rocha ist ein sehr guter Tischtennisspieler. Er ist der Gegner, der mir am meisten zu schaffen gemacht hat. Wir gehen auch gerne in die Sauna, schauen Serien und spielen Karten. Das sind die Dinge, die wir tun, um unseren Geist zu entspannen und uns von der vollen Konzentration auf den Futsal abzulenken. Es ist sehr wichtig, sich zu entspannen.

Und was ist mit Musik? Ich bin ein geborener Pagodeiro (jemand, der Samba pagode spielt). Ich liebe Samba und Pagode. Wir haben unsere eigenen Instrumente mitgebracht. Ich habe mein Tamburin bei mir. Es ist persönlich gestaltet, ich liebe es. Manchmal machen wir ein bisschen verrückte Musik. Das macht viel Spaß und lenkt uns alle ab. Was würden Sie machen, wenn Sie kein Futsalspieler wären? Das ist eine gute Frage. Ich glaube, ich wäre Samba-Musiker. Ich bin ein Pagodeiro, ich spiele gerne Tamburin, also hätte ich wohl versucht, diesen Weg einzuschlagen.