Donnerstag 30 Januar 2020, 01:13

Herdman: WM-Qualifikation würde Sportlandschaft Kanadas für immer verändern

  • John Herdman spricht über Kanadas historischen Sieg gegen die USA

  • Das große Ziel ist die Teilnahme an der FIFA Fussball-WM Katar 2022

  • Der 44-Jährige schwärmt von Alphonso Davies

Als Kanada zum letzten Mal gegen die USA gesiegt hatte, war das Wrack der Titanic noch nicht gefunden worden. Zwischen den beiden großen Nationen in Nordamerika gab es noch kein Freihandelsabkommen. Das Basketball-Team der Toronto Raptors gab es damals noch nicht und auch Eishockeystar Sidney Crosby war noch nicht geboren.

Dann jedoch erschütterten die Canucks im Oktober 2019 in der CONCACAF Nations League den nordamerikanischen Fussball in seinen Grundfesten – mit einem 2:0-Sieg gegen den südlichen Nachbarn, dem ersten Erfolg gegen die USA seit 1985. Der kluge Kopf dahinter war kaum 20 Monate zuvor noch als 'Verrückter' bezeichnet worden.

Sieben Jahre lang hatte John Herdman seine gesamte Arbeit (oftmals 15 Stunden am Tag) darauf konzentriert, die Frauen-Nationalmannschaft Kanadas so weit zu stärken, dass sie zwei Mal in Folge die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen holte. Man traute dem Team zu, bei der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ den Spitzenteams Paroli zu bieten. Doch dann gab der aus England stammende Trainer seinen Posten von einem Tag auf den anderen auf und übernahm stattdessen die Männer-Nationalmannschaft des Landes, die seit der einzigen WM-Teilnahme 1986 in Mexiko nicht einmal in die Nähe einer weiteren Endrunde gekommen war.

Zwei Jahre später: Kanada hat 75 Prozent der 16 Spiele unter Herdman gewonnen (der bisherige Rekord eines kanadischen Nationaltrainers lag bei 50 Prozent), und das Fussballfieber hat das Land vom Yukon bis zum Cape Spear erfasst. FIFA.com traf den 44-jährigen Coach zu einem ausführlichen Gespräch über die unvergessliche Nacht in Toronto, die Hoffnungen auf Katar 2022, Alphonso Davies und das Abschneiden Kanadas 2019 in Frankreich.

John, bitte erzählen Sie uns etwas über den historischen Sieg gegen die USA. Für den Stab, die Spieler und die Fans war das ein absolut überwältigendes Erlebnis. Ich erinnere mich an ein Video, das ich später sah: Die Spieler schlugen auf Trommeln und machten mit den Fans zusammen das donnernde Klatschen, wie die Isländer. In den Gesichtern der Fans konnte man sehen, dass viele von ihnen es kaum glauben konnten. Ich denke, dabei hat das Team sein wahres Potenzial gezeigt.

Wie wurde der Sieg anschließend in der Umkleidekabine gefeiert? Ich gehe nicht oft in die Kabine, das überlasse ich meist den Spielern allein. Aber im Hotel feiern wir oft ein bisschen und vergeben kleine Preise an Jungs, die ihr erstes Länderspiel bestritten haben. Dieses Mal war es Liam Fraser, ein 21-Jähriger, der ausgerechnet auf dem Platz debütierte, auf dem er sonst mit seinem Klub spielt. Allerdings bekam er bei seinem Klub kaum Einsatzzeit. Im Länderspiel kam er in der neunten Minute aufs Feld und spielte ausgerechnet gegen den Typen, der im Team von Toronto auf seiner Position spielt, nämlich Michael Bradley. Es war ein Spiel, das Kanada unbedingt gewinnen musste. Er übertrumpfte ihn eindeutig und wir gewannen die Partie! Das war ein echtes Fussballmärchen. Ich habe eine ziemliche Bierdusche abbekommen – mehr will ich dazu gar nicht sagen!

Wie hat sich dieser Sieg auf den Fussball in Kanada ausgewirkt? Für den normalen Fan auf der Straße war das einer dieser ganz besonderen Momente. Für uns allerdings kam kurz darauf die Ernüchterung. Drei Wochen später spielten wir in den USA und verloren. Eigentlich hatten wir einen riesigen Schritt gemacht und glaubten fest an uns, doch dann wurden wir geschlagen und konnten uns nicht für die Runde der letzten Vier der Nations League qualifizieren. Ich hatte Mitgefühl mit den Fans. Wie England, das gegen Deutschland gewann … oh, davon muss ich wohl nichts erzählen (lacht). Doch drei Wochen lang waren die kanadischen Fans wie elektrisiert und meinten voller Überzeugung 'Dieses kanadische Team hat Eindruck gemacht.' Ganz besonders einprägsam war der Moment, als nach dem Spiel an einer U-Bahn-Station ein TV-Moderator umringt von Fans von der Stimmung berichtete und die Fans aus voller Kehle die Nationalhymne O Canada sangen. So sehr brodelt es rund um die Nationalmannschaft, einfach fantastisch. Das Team will mehr solcher Momente und ich will mehr solcher Momente, in denen das ganze Land zum Stillstand kommt. Das soll unser Vermächtnis sein. Während der Weltmeisterschaft sieht man in Kanada Fans mit Trikots von Griechenland, Portugal, Italien, England, Deutschland… Wir wollen mehr solcher Momente, damit die Leute in Zukunft das Trikot Kanadas tragen – ein Team, ein Trikot, das ganze Land, von Küste zu Küste. Dieses Video war sehr emotional für mich. Dieser Moment hat gezeigt, dass nicht mehr viel fehlt. Unser wichtigstes Ziel ist es, uns für die WM zu qualifizieren. Wenn uns das gelingt, wird es die Sportlandschaft Kanadas für immer verändern. Es wird das Land vereinen.

Kanada hat seit der Qualifikation für die FIFA Fussball-WM Frankreich 1998™ nicht mehr die abschließende Runde der CONCACAF-Zone erreicht. Damals landete man auf dem letzten Platz dieser Sechser-Runde. Kann das Team es zur WM 2022 nach Katar schaffen? Die Qualifikation in der CONCACAF-Zone ist wirklich sehr, sehr schwer. Wenn europäische Teams hierher kämen und an einigen dieser Orte spielen müssten, hätten sie bestimmt Probleme. Die Sturmstärke der USA in der Qualifikation für 2018 war phänomenal, der Kader hatte einen Wert von mehr als 200 Millionen Dollar. Und die Macht der Zuschauer wird deutlich. Die Leidenschaft, der Wille, der Stolz in manchen Ländern sind beeindruckend. Für die Gästeteams ist das ein regelrecht feindliches Umfeld. Die Plätze sind nicht in dem Zustand, den Alphonso Davies bei Bayern München gewöhnt ist. Die Zweikämpfe sind furios. Aber ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Wir kämpfen und wollen die letzte Runde erreichen. Wenn wir an uns glauben und nicht nachlassen, wird unsere Zeit kommen.

Davies stand in den letzten 15 Spielen bei Bayern München in der Startaufstellung. Haben Sie erwartet, dass er sich so schnell etablieren würde? Ja. Er hat einen sehr starken Charakter. Er ist ein bescheidener Junge mit großartiger und sehr positiver Energie. Ich weiß, wie viel Einfluss seine Mutter noch auf ihn hat. Er hat einen sehr starken familiären Hintergrund, der ihm Halt gibt. Er ist absolut furchtlos. Er hat Spaß am Leben und versucht, das auch auf dem Fussballfeld zu zeigen. Und er trägt natürliche Kreativität bei. Vor dem Rampenlicht hat er keine Angst. Er tanzt und singt. Er hat einfach keinerlei Angst, zu zeigen, wer er ist, und tut das auch auf dem Fussballfeld.

Wie gut kann er noch werden? Ich denke, er hat bereits gezeigt, dass er zu den vielversprechendsten Spielern der Welt gehört. Wer bei Bayern München spielt und regelmäßig in der Startformation steht, muss zu den Besten der Welt gehören. Er spielt schon als 19-Jähriger für Bayern München in der Champions League. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen und dabei lächeln. Was für eine tolle Erfolgsgeschichte eines Kanadiers!

Wie haben Sie das Frauenteam Kanadas bei der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ erlebt? Das war sehr emotional. Schließlich haben diese Frauen mit mir zusammen sieben Jahre ihres Lebens investiert. Dabei baut man sehr enge Beziehungen auf – bei Erfolgen und auch bei Misserfolgen. Wir haben tagtäglich miteinander gearbeitet, ganz anders als üblich im internationalen Fussball. Es ist nicht leicht, wenn man dann nicht vor Ort dabei ist, aber dabei sein will und natürlich auch mit dem Herzen dabei ist. Glücklicherweise hatte ich durch den CONCACAF Gold Cup etwas Ablenkung.