Mittwoch 25 Mai 2022, 09:00

Dänemarks Hojbjerg über Trauer, Entwicklung und Erfolg

  • Pierre-Emile Hojbjerg ist ein Schlüsselspieler für Dänemark und Tottenham Hotspur 

  • Der Mittelfeldspieler hat große persönliche und berufliche Herausforderungen hinter sich 

  • Er sprach mit der FIFA über die Leidenschaft, die ihn antreibt, und seine Hoffnungen für Katar 2022 

Das Rigshospitalet ist das größte Krankenhaus Dänemarks und gehört zu den besten Kliniken der Welt. Außerdem bietet es über ein Wäldchen und mehrere Fussballfelder hinweg einen Blick auf das Parken-Stadion, die Heimspielstätte der dänischen Nationalmannschaft. Beide Orte haben einen dauerhaften, emotionalen Einfluss auf das Leben und die Karriere von Pierre-Emile Hojbjerg. 

Der Mittelfeldspieler von Tottenham Hotspur wurde im Rigshospitalet geboren, wuchs im Stadtteil Osterbro auf und war von Anfang an von dem Ziel besessen, im Parken-Stadion aufzulaufen. Selbst nachdem er sich diesen Traum mehrfach erfüllt hatte und mit 17 Jahren ins Ausland zog, blieben die Kopenhagener Arena und das nahe gelegene Krankenhaus ein wichtiger Bestandteil seiner Geschichte. Seine beiden Kinder wurden ebenfalls im Rigshospitalet geboren, und dorthin wurde auch sein Freund Christian Eriksen gebracht, als er während der UEFA EURO 2020 im Parken-Stadion einen Herzstillstand erlitten hatte. 

Doch schon lange bevor Hojbjerg Schlagzeilen machte, indem er Eriksen das Leben rettete, hatte Hojbjerg im selben Krankenhaus gesessen, Zeit mit seinem geliebten Vater verbracht und sich dann von ihm verabschiedet. Damals war er gerade 18 Jahre alt, weniger als ein Jahr nach seinem Traumwechsel zu Bayern München, aber vor allem nur wenige Wochen, bevor er erstmals in die dänische A-Nationalmannschaft berufen wurde. 

Im Gespräch mit FIFA sagte Hojbjerg: "Ich hatte schon immer eine emotionale Bindung zur Nationalmannschaft, mehr als zu allem anderen in meiner Karriere. Es war immer ein großer Traum meines Vaters, und natürlich auch von mir selbst, dass ich eines Tages für Dänemark spielen würde. 

Als mein Vater (der an Magenkrebs erkrankt war) immer kränker wurde, kam ich dem Ziel, Nationalspieler zu werden, immer näher. Ich erinnere mich, dass im März jenes Jahres ein Spiel der Nationalmannschaft stattfand, aber ich 'nur' für die U-21 nominiert wurde. Ich hatte sehr gehofft, in die erste Mannschaft berufen zu werden, und wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich durchaus sagen, dass ich etwas verärgert war." 

Die ersehnte Berufung in die A-Nationalmannschaft erfolgte dann gut zwei Monate später. Leider war das zu spät, um den gemeinsamen Traum von Vater und Sohn noch wahr werden zu lassen. 

"Er ist einen Monat vor meinem Debüt verstorben", erklärt Hojbjerg. "Das letzte Mal, als ich ihn sah, war ich unter Pep Guardiola zum zweiten Mal deutscher Meister geworden. Wir haben uns das Spiel zusammen im deutschen Fernsehen angesehen. Ich hatte um eine Auszeit gebeten, um bei meinem Vater sein zu können, der zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank war. 

Pierre Emile Hojbjerg nach dem Gewinn der Bundesliga mit dem FC Bayern München im Jahr 2013.

Das Krankenhaus, wo er behandelt wurde, liegt ja direkt neben dem Parken-Stadion, und ich weiß noch, wie ich bei ihm war, aus dem Fenster auf das Stadion schaute und er sagte: 'Jetzt musst du nur noch für die Nationalmannschaft spielen, dann hast du ein tolles Jahr hinter dir.' Wir haben zusammen gelacht, und so ist er mir im Gedächtnis geblieben. 

Ich glaube wirklich, dass er jeden Tag bei mir ist, aber dass er es nicht mehr miterleben konnte, wie ich für die Nationalmannschaft spiele, tut mir sehr weh. Ich erinnere mich noch an mein erstes Tor für Dänemark, und dass es mir schwerfiel, mich wirklich darüber zu freuen, weil der Mann fehlte, den ich unbedingt dabei haben wollte. Die Leute fragten mich am nächsten Tag: 'Warum bist du nicht glücklich? Du bist 18 und hast gerade ein Tor für die Nationalmannschaft geschossen'. Aber ich war nicht wirklich glücklich, und im Nachhinein betrachtet hat sich das auch auf meine Vereinskarriere übertragen. Ich habe versucht, eine Art Trauerarbeit zu leisten, aber mir selbst nicht den nötigen Freiraum dafür gegeben." 

Obwohl er sich als harter, unermüdlicher und kämpferischer Mittelfeldspieler einen Namen gemacht hat, ist es keine Überraschung, dass Hojbjerg so emotional und eloquent spricht. Der "Wikinger", wie er sich selbst bezeichnet, hat durchaus auch eine sensible Seite, die erneut zum Vorschein kam als Dänemark das EM-Halbfinale erreichte. Auch damals musste er wieder an seinen verstorbenen Vater denken.

"Ich bekomme einen Kloß im Hals, wenn ich mit meiner Mutter über diese Momente spreche, von denen ich weiß, dass er sie so gerne gesehen hätte", so Hojbjerg. "Und ich sage immer: 'Ja, aber er sieht es doch. Er ist da und verfolgt alles – durch mich, durch meinen Bruder und meine Schwester, durch meine Onkel – er sieht es.

Dieses Gefühl, etwas zu verpassen, änderte sich dann ein wenig, als meine Kinder kamen. Ich nutze diese Liebe, und ich tue alles für sie. Seit ich Kinder habe, habe ich einen Weg gefunden, mit [der Trauer] zu leben und einen Platz dafür zu finden."

Trotz seiner derzeitigen Funktion als Dreh- und Angelpunkt für Verein und Land mit viel Lob von den jeweiligen Trainern hat Hojbjerg sowohl berufliche Rückschläge als auch persönliche Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Einer der schmerzhaftesten Erfahrungen war seine Nichtberücksichtigung für die letzte FIFA Fussball-WM™, nachdem der damalige Trainer Age Hareide bemängelte, dass er bei seiner Auswechslung "ein bisschen zu sehr seinen Unmut zeigte."

"Das war durchaus schmerzhaft", gab Hojbjerg zu. "Ich habe es allerdings kommen sehen, weil ich im Jahr zuvor nicht zur Gruppe gehört hatte. Aber die ganze Situation war etwas chaotisch. Das ist keine schöne Erinnerung für mich.

Ich habe aber schon früher gesagt, dass es vielleicht die wichtigste Zeit in meiner Karriere als Fussballer war, weil ich viel gelernt habe, mich auf kleine Details konzentriert und hart an mir gearbeitet habe. Mental war es ein Kampf. Aber ich bin aus diesem Kampf definitiv deutlich gestärkt hervorgegangen. Ich will es zwar eigentlich nicht so deutlich sagen, aber vielleicht habe ich genau das gebraucht."

Da sich Hojbjerg seit 2018 zu einem deutlich reiferen und erfahreneren Spieler entwickelt hat, wird er die nächste WM ganz sicher nicht verpassen – sofern keine Verletzung dazwischen kommt. Dänemarks Nationaltrainer Kasper Hjulmand ist von Hojbjerg absolut überzeugt und bezeichnet ihn als "sehr leidenschaftlich." Dem Trainer zufolge "trägt er sowohl offensiv als auch defensiv viel bei."

Hojbjerg seinerseits schwärmt von seinem Nationalcoach, dem es gelungen ist, Erfolg und intelligenten, flüssigen Fussball spielen zu lassen und seiner Arbeit eine persönlichen Note aufzudrücken.

Er sagt: "Für Kasper gehe ich aufs Ganze, und er weiß das. Ich finde, er ist ein Trainer, der mit seiner Herangehensweise wirklich ein bisschen bahnbrechend ist. Technisch und taktisch ist er ein ganz besonderer Trainer, und als Mensch ist er eine sehr moderne Führungspersönlichkeit. Er ist etwas Besonderes.

Manchmal fragt man sich bei ihm: 'Wie schafft er es, Zeit für jeden zu finden?' Denn es scheint, dass er jedem Zeit gibt. Aber vor den Spielen und auch im Training hat er stets die nötige Konzentration. Er ist genau der Typ, den ich verinnerliche."

Hjulmand ist es gelungen, nicht nur eine emotionale Bindung zu seinen Spielern aufzubauen, sondern diese auf die gesamte Nation auszuweiten. Das Ergebnis ist ein Land, das voll und ganz hinter seiner Nationalmannschaft steht und Spiele im Parken-Stadion, die sowohl ein Fest für die Augen als auch Nahrung für die Seele sind.

"Wenn wir spielen, fühlt es sich an, als wären wir eins", sagt Hojbjerg über die Beziehung zwischen Mannschaft und Fans. "Emotional sind wir den Fans sehr verbunden, und das ist etwas Besonderes und sehr stark. Es ist nicht erzwungen, sondern hat sich ganz natürlich ergeben, und es ist sehr einzigartig. Ich kann nur empfehlen, ein Spiel im Parken-Stadion zu besuchen, weil es wirklich ein ganz besonderes Erlebnis ist."

Der Erfolg des Teams und die Sympathie von Trainer und Spielern sind natürlich ein wichtiger Teil dieser Geschichte. Aber wie Hjulmand kürzlich in einem Interview mit der FIFA sagte, trug auch Eriksens Herzstillstand dazu bei, den Zusammenhalt einer traumatisierten Nation zu stärken, die "gemeinsam geheilt ist."

"Das war ein absolut zentrales Ereignis ", stimmt Hojbjerg zu. "Alle sammelten sich ganz eng um ihn herum und kamen sich noch näher. Wir waren schon vorher so, aber [nach Eriksens Zusammenbruch] wurde das sogar noch klarer und realer.

Zum Glück ist die Geschichte jetzt in jeder Hinsicht schön: Christian ist heute wieder hier bei uns, wir haben es als Mannschaft letztendlich gut gemacht und alle sind stolz. In diesem Sinne ist es eine schöne Geschichte geworden. Es ist absolut fantastisch, dass er wieder dabei ist."

Dänemarks Pierre-Emile Hojbjerg gratuliert Christian Eriksen.

Da Eriksen nicht nur zurück ist, sondern auch wieder an seine früheren Leistungen anknüpft und das Team in seiner Abwesenheit die Qualifikation erfolgreich absolviert hat, sind die Aussichten Dänemarks bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ durchaus vielversprechend. Und so wie Hjulmand sich mit der Einschätzung als Titelanwärter anfreunden kann ("Für mich wäre es nur noch besser, wenn es hieße, wir seien einer der großen Favoriten"), denkt auch der Mittelfeldspieler, dass Dänemark viel erreichen kann.

"Der Glaube ist stark – der Glaube an unsere eigenen Stärken und an das, was wir tun", sagte er. "Es ist auch die Stärke, zu verstehen, dass wir zwar nicht Brasilien, Deutschland oder Frankreich sind, aber dass wir etwas haben, was die anderen nicht haben. Wir müssen diese Besonderheit nutzen und sehen, wie weit wir damit kommen können."

Leidenschaft, Zusammengehörigkeit und die Talente einer ausgeglichenen Mannschaft haben sich in der Qualifikation als eine starke Mischung erwiesen. Wenn Hojbjerg und Co. dieses hohe Niveau beibehalten können, ist eine triumphale und emotionsgeladene Rückkehr ins Parken-Stadion im Dezember in greifbarer Nähe.