Freitag 08 Mai 2020, 07:00

Baresi : "Ich hatte das Glück, bei drei Endrunden dabei zu sein"

  • Franco Baresi feiert am 8. Mai 2020 seinen 60. Geburtstag

  • Die Legende des AC Milan und der Nazionale zählt zu den besten Verteidigern aller Zeiten

  • Im Gespräch mit FIFA.com erinnert er sich an die prägenden Ereignisse seiner Karriere

Er war nicht der Größte, nicht der Stärkste und auch nicht der Schnellste. Und doch steht er ganz weit oben auf der Liste der besten Verteidiger aller Zeiten. Einmal abgesehen von Franz Beckenbauer ist es schwer, einen Innenverteidiger zu finden, der es in puncto Spielintelligenz, Eleganz, Stellungsspiel, Spielübersicht und der Fähigkeit, ein Team aus der eigenen Hälfte heraus zu dirigieren, mit Franco Baresi aufnehmen kann.

Im Land des Catenaccio war Baresi eine Koryphäe. Ein Libero, der die Position revolutioniert hat, ein Vorzeigekapitän und ein Führungsspieler, der Respekt einflößte, ohne viele Worte zu machen. Dieser Abwehrkünstler ist 14 Jahren lang dem AC Milan treu geblieben, nämlich von 1977 bis 1997, und hat im Zeitraum von 1980 bis 1994 außerdem 81 Länderspiele für Italien bestritten. Damit hat er einige der schönsten Kapitel der Geschichte der Nazionale mitgestaltet.

Am 8. Mai darf das Mitglied der FIFA-Legenden 60 Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen auspusten und hat schöne Geschichten zu erzählen, vor allem über die drei FIFA Fussball-Weltmeisterschaften™, an denen er teilgenommen hat. Als Geburtstagsgeschenk hat FIFA.com ihm das Mikrofon überlassen. Er hat es genutzt, um Erinnerungen noch einmal aufleben zu lassen, einige Anekdoten zum Besten zu geben und uns seine Einschätzung zu den aktuellen Verteidigern mitzuteilen.

Herr Baresi, fangen wir am Anfang an. Bei der WM 1982 in Spanien wurden Sie zum Weltmeister gekürt, ohne eine einzige Minute auf dem Platz gestanden zu haben. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses Turnier?

Ich war damals 22 Jahre alt, und obwohl ich tatsächlich nicht eine Minute gespielt habe, betrachte ich das Turnier als ein ganz wichtiges und entscheidendes Ereignis für meine Karriere. Das war ein sehr intensives Erlebnis, an das ich mit viel Neugier herangegangen bin. Ich konnte dort Zeit mit wahren Meistern verbringen, die für mich ganz einfach legendär waren. Das waren meine Idole, denn vier Jahre zuvor hatte ich die WM in Argentinien genau verfolgt und war völlig fasziniert gewesen von einem Team, dem viele Spieler angehörten, mit denen ich 1982 Seite an Seite spielen sollte. Unter anderem waren das Scirea, Gentile, Cabrini, Tardelli, Conti, Antognoni, Graziani. Das war ein unglaubliches Team, und zwar sowohl auf dem Platz als auch von den Spielerpersönlichkeiten her.

Was genau haben Sie gelernt, als Sie die Stammspieler auf dem Weg zum Titel aus der Nähe beobachten konnten?

Nach einem schwierigen Auftakt haben wir diese WM am Ende wirklich verdient gewonnen und mit Brasilien, Argentinien und Westdeutschland die besten Mannschaften der Welt geschlagen. Diese Erfahrung war ein Eckpfeiler meiner Karriere. Ich habe versucht, die Mannschaft in den Trainingseinheiten auf die eine oder andere Weise zu unterstützen, aber das Wichtigste war, einfach zuzuschauen und zu lernen. Es hat die ersten Jahren meiner Karriere ganz entscheidend geprägt, dass ich erfahren durfte, wie dieses Team sich auf große Spiele vorbereitet und dabei immer einen kühlen Kopf bewahrt.

Sie waren auch bei der Heim-WM von 1990 dabei, wo die *Nazionale* im Halbfinale ausschied, obwohl sie 518 Minuten ohne Gegentor geblieben war. Was hat zum Turniersieg gefehlt?

Die WM 1990 war eine ganz andere Geschichte. Ich war inzwischen erfahren und bereits seit Jahren Kapitän des AC Milan, einem der ganz großen Klubs des Weltfussballs. Ehrlich gesagt finde ich, dass dieses Team mindestens die Finalteilnahme verdient gehabt hätte. Es war eine intelligente Mischung aus jungen und erfahrenen Spielern und ich glaube, wir haben ein wirklich gutes Turnier gespielt. Es ist schade, weil eine Heim-WM immer eine gute Chance ist. Manchmal hat man eben einfach Pech [Niederlage im Elfmeterschießen gegen Argentinien], und das hat sich 1994 in einem weiteren Elfmeterschießen wiederholt [im Finale gegen Brasilien]. 2006 war es dann umgekehrt, und wir hatten das Glück auf unserer Seite. So ist das im Sport.

Wo wir schon bei der WM 1994 sind: Dort haben Sie sich gleich im zweiten Spiel gegen Norwegen eine Verletzung zugezogen. Haben Sie damals gedacht, Ihre WM-Karriere sei damit beendet?

Ja, auf jeden Fall. Das war ein harter Schlag. Ich war Kapitän, ich wusste, dass dies meine letzte WM sein würde und die Stimmung im Team war einfach unglaublich. Viele meiner Teamkameraden vom AC Milan waren dabei, und Trainer war Arrigo Sacchi, der den Klub in den Vorjahren zum Erfolg geführt hatte. Alle Elemente sprachen dafür, dass es ein ganz besonderes Ereignis werden würde, und ich war zuversichtlich, dass ich eine sehr gute Leistung abliefern würde. Doch plötzlich wurde ich vom Schicksal zum Zuschauen verdammt, wobei meine Teamkameraden im Kampf gegen die widrigen Umstände fantastisch waren.

Am 25. Juni wurde dann bei Ihnen eine Arthroskopie am Knie durchgeführt. Wie war es möglich, dass Sie am 17. Juli im WM-Finale wieder auf dem Platz standen?

[Lacht] Auch nach so vielen Jahren kommt mir das Ganze jedes Mal, wenn ich diese Geschichte erzähle, unglaublich vor. Damals hatte ich dieses Gefühl aber nicht, weil ich die Situation sehr intensiv erlebt und immer nur von Tag zu Tag gedacht habe. Du bist bereit, dich einem chirurgischen Eingriff zu unterziehen, fragst dich, wie deine Zukunft aussehen wird, fängst gerade an, dich langsam wieder von der Verletzung zu erholen und plötzlich steht ein WM-Finale an! Ich hätte nie gedacht, dass ich spielen kann. Ich habe mich weiter Behandlungen unterzogen und Physiotherapie gemacht, mit dem Gedanken, mich anschließend in den Urlaub zu verabschieden und bereit für die nächste Saison zu sein. Sie können sich also vorstellen, wie überrascht ich war, als mir klar wurde, dass ich in der Lage sein würde, das WM-Finale zu bestreiten ...

Jetzt mal ganz ehrlich: Haben Sie sich wirklich fit und einsatzbereit gefühlt? Zu 100 Prozent?

[Lacht] Ich könnte niemals behaupten, dass ich zu 100 Prozent fit war! Ich hatte einige intensivere Trainingseinheiten mitgemacht, und mein Knie hat sehr gut reagiert. Es tat nicht besonders weh und schwoll auch nicht an. Außerdem kamen bei uns einige Faktoren zusammen, da es weitere Verletzte und auch gesperrte Spieler gab ... Letztendlich hatte Sacchi den Mut, mir eine Chance zu geben.

Ist dieses Spiel in Ihrer Erinnerung eines der spannendsten Ihrer Karriere?

Ah, das auf jeden Fall! Nicht nur das Spiel selbst war spannend, den gesamten Tag über herrschte große Anspannung. Ich erinnere mich noch an den Vortag, an dem ich nicht wusste, ob ich spielen würde oder nicht. Ich habe es erst am Morgen des Spieltags erfahren. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, ob mein Knie wohl durchhalten würde ... all diese Dinge gingen mir ständig durch den Kopf. Am Ende war ich überzeugt davon, dass ich dem Team helfen könnte, und als das Spiel dann begann, war ich voll und ganz auf die Partie konzentriert, die sich als sehr schwer erweisen sollte.

Insgesamt haben Sie bei drei WM-Turnieren ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Welche Bilanz würden Sie ziehen?

Ja, sie waren ganz unterschiedlich und ich betrachte es als großes Glück, an drei Weltmeisterschaften teilgenommen und jedes Mal auf dem Treppchen gelandet zu sein. Das ist alles andere als einfach. Einige Spieler haben vier Weltmeisterschaften bestritten und vielleicht auch einen Titel gewonnen, aber auch einige Male Schwierigkeiten gehabt und sind früh ausgeschieden. Ein erster, ein zweiter und ein dritter Platz ist gar nicht so schlecht. Ich kann mich nicht beklagen! [Lacht]

Sie gelten als einer der besten Verteidiger aller Zeiten. Wie bewerten Sie die aktuellen Defensivspezialisten?

Der Fussball hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren sehr verändert, und zwar nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch mit Blick auf die Wahrnehmung. Das liegt am Zugriff auf Informationen, der Rolle der sozialen Netzwerke usw. Ich denke, auch die Wahrnehmung der Verteidiger hat sich im Laufe dieser Zeit verändert. Echte Fussballfans wissen, wie wichtig Verteidiger sind und wissen sie zu schätzen. Wenn ich Namen nennen soll, würde ich sagen, derjenige, der wirklich heraussticht, ist Virgil van Dijk. Er hat gezeigt, dass er über die Qualität, den Charakter und die Stärke verfügt, die ein Verteidiger braucht, um ein Team wie Liverpool zum Erfolg zu führen.

Sie feiern am 8. Mai ihren 60. Geburtstag. In sechs Jahrzehnten haben Sie mit vielen Spielern auf dem Platz gestanden oder deren Entwicklung beobachtet. Welche Akteure bekommen einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle von Franco Baresi?

Ich habe mit so vielen hervorragenden Spielern zusammengespielt oder bin gegen sie angetreten, dass es mir schwerfällt, eine Auswahl zu treffen. Aber nach allem, was ich im Fussball erlebt habe, kann ich aus jeder Generation zwei Spieler herauspicken, die die Geschichte wirklich geprägt haben: Pelé und Eusébio, die ich als Kind im Fernsehen gesehen habe, Johan Cruyff und Franz Beckenbauer, dann wären da Diego Maradona und Michel Platini, Ronaldo und Marco van Basten und schließlich noch Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Das muss reichen! [Lacht]

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