Dienstag 16 April 2019, 22:31

Van Gaal: Guardiola konnte stundenlang über Taktik reden

  • Van Gaal verrät, dass Guardiola schon als junger Spieler von Taktik besessen war

  • Wer gut genug ist, der ist auch alt genug

  • Wie wichtig ist Fussball in England, Deutschland, den Niederlanden und Spanien?

Die Welt des Fussballs wird Louis van Gaal so schnell nicht vergessen. Der ehemalige Gymnastiklehrer war ein echter Entertainer und ein einzigartiger Charakterkopf. Er sang Songs der Beatles, er schwärmte auf Pressekonferenzen in den höchsten Tönen von der chinesischen Küche und demonstrierte mit dem Klemmbrett unter dem Arm Kung-Fu-Tritte. Chris Smalling nannte er 'Michael' und 'Mike' und seine Siegesansprachen sind legendär.

14 Saisons war der Taktikfuchs als Trainer im Vereinsfussball tätig, vier davon bei AZ Alkmaar. Insgesamt gewann er sieben nationale Meistertitel und ein Mal die UEFA Champions League. Und er war der Mann, der hinter dem Kantersieg der Niederlande gegen Titelverteidiger Spanien bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014™ stand. Kurz nachdem er das Ende seiner Karriere bekannt gegeben hatte, sprach der 67-Jährige mit FIFA.com über sein Leben an der Seitenlinie.

Edwin van der Sar, Danny Blind, Frank de Boer, Frank Rijkaard, Edgar Davids, Clarence Seedorf, Ronald de Boer, Marc Overmars, Finidi George, Jari Litmanen, Kanu, Patrick Kluivert… wie gut war das Team von Ajax Amsterdam in der Saison 1994/95, das das Double aus Eredivisie und UEFA Champions League gewann?

Man musste dieses Ajax-Team in dieser Ära mit eigenen Augen sehen, um zu erkennen, wie gut es war. In dieser unvergesslichen Saison 1994/95 haben wir nur ein einziges Spiel verloren, nämlich gegen Feyenoord Rotterdam im [KNVB]-Pokal-Viertelfinale, in der Verlängerung. Wir haben weder in der Liga noch in der Champions League eine Niederlage kassiert. Ich glaube, das hat kein anderes Team je wieder geschafft. Wir mussten in dieser Saison drei Mal gegen den AC Mailand spielen, den Titelverteidiger, ein großartiges Team, das in aller Munde war. Aber wir haben alle drei Spiele gewonnen.

Kluivert erzielte mit gerade einmal 18 Jahren das Siegtor im letzten dieser Duelle und ist bis heute der jüngste Torschütze in einem Europapokal- bzw. Champions-League-Finale. Es gehörte zu Ihren Markenzeichen, 17- und 18-Jährigen eine Chance zu geben…

Für mich ist das ganz normal. Aber die meisten Trainer schrecken heute davor zurück. Natürlich gibt es Unterschiede bei der Erfahrung. Aber wenn ein Spieler gut genug ist, dann sollte er auch spielen. Ich habe Youngsters immer gern eine Chance gegeben, denn ich erkannte ihre Qualitäten und die Inspiration, die sie ins Team einbringen konnten. Ältere, eingespielte Mannschaften spielen oftmals sozusagen auf Autopilot. Wenn Youngster dabei sind, bedeutet das mehr Intuition. Ich habe immer lieber kleine Kader gehabt, um jungen Spielern eine Chance zu geben. Als ich zu Manchester United kam, hatten wir über 35 Spieler unter Vertrag. Ich habe eine ganze Reihe verkauft und hatte dann noch einen 23er-Kader. Das verschaffte den Youngsters Einsatzmöglichkeiten. Ich halte das für sehr wichtig. Es ermöglichte Marcus Rashford und Jesse Lingard den Sprung aus der Nachwuchsakademie. Der Klub verpflichtete damals Youngster wie Luke Shaw und Anthony Martial. Ich bin sehr stolz, dass sie auch heute noch in [Ole Gunnar] Solskjaers Team spielen und bei Manchester United so etwas wie die Wächter der Klubkultur werden können, ähnlich wie es [Carles] Puyol, Xavi, [Andres] Iniesta und [Victor] Valdes lange Zeit beim FC Barcelona waren.

Während Ihrer ersten Amtszeit in Barcelona hatten Sie zwei der damals größten Stars der Welt im Kader, nämlich Luis Figo und Rivaldo. Was haben Sie über diese beiden gedacht?

Figo war nicht nur fussballerisch enorm stark – man konnte einfach in jedem Spiel auf ihn zählen. Er war ein echter Siegertyp. Rivaldo war natürlich auch ein Riesentalent und hat unzählige Tore geschossen, aber auf ihn konnte man nicht immer zählen. Vieles hing vom jeweiligen Moment ab.

Auch Pep Guardiola hat im Camp Nou unter Ihnen gespielt. Haben Sie damals schon vorhergesehen, dass er eines Tages Trainer werden würde?

Er war als ich ankam nicht der Kapitän, aber ich habe ihn gleich in meinem ersten Jahr dort zum Kapitän gemacht. Auf dem Feld war er ohnehin immer ein Kapitän, ein wahrer Kapitän. Deswegen habe ich durchaus erwartet, dass er Trainer werden würde. Bei Luis Enrique hingegen hätte ich nie erwartet, dass er Trainer würde. Er war ein sehr intuitiver Spieler. Er sprach nie mit mir über Taktik. Die Spieler, die ich als spätere Trainer ansah, wurden gewöhnlich auch meine Kapitäne. Ein Kapitän darf nicht nur seine eigene Position sehen, sondern muss immer auch das Wohl des Teams im Auge behalten. Guardiola tat genau das. Und über Taktik konnte er sich stundenlang unterhalten! (lacht). Das hat ihm schon damals einfach großen Spaß gemacht. Außerdem war Guardiola auch eine Persönlichkeit. Das war einer der Gründe, dass ich ihn zum Kapitän gemacht habe. Einmal gab es Unmut im Kader, weil ich [Hristo] Stoichkov vom Training mit der ersten Mannschaft ausgeschlossen hatte, und Guardiola kam zu mir, um mir davon zu berichten. Dazu brauchte es Mumm.

Sie haben in den Niederlanden, in Spanien, in Deutschland und in England gearbeitet. In welchem dieser Länder ist der Fussball am wichtigsten?

Ich denke, in England spielt der Fussball für die Fans die größte Rolle. Sie leben und atmen den Fussball förmlich. Fussball ist für die Menschen dort wirklich bedeutsam – stärker noch als in Spanien und in Deutschland. In Spanien ist er etwas wichtiger als in Deutschland. Und in den Niederlanden ist Fussball zwar auch bedeutend, aber nicht so sehr wie in England oder Spanien.

Haben Sie gern in England gearbeitet?

Es hat mir sehr großen Spaß gemacht, und zwar wegen der Atmosphäre, den perfekten Plätzen, und den immer randvollen Stadien mit besonders lauten Fans. Und natürlich wegen der Intensität des Fussballs, mit viel Druck gegen den Ball. Deswegen bin ich überhaupt nach England gegangen. Eigentlich wollte ich mich nach meiner zweiten Amtszeit als niederländischer Nationaltrainer schon zur Ruhe setzen. Aber dann kamen einige Angebote aus England und ich sagte mir, 'Ich will diese Erfahrung in England noch machen, um mir einen Traum zu erfüllen', und so kam es dazu. Der einzige negative Aspekt ist, dass zu viele Teams dort den Bus parken.

Welche Spieler waren die besten, die Sie in Ihrer Karriere trainiert haben?

Ich habe immer auch sehr auf das Menschliche geachtet. Es geht nicht immer um den kreativsten Spieler oder um den besten Torjäger, sondern einen Spieler, der das Team antreibt und die Richtung vorgibt. Beispiele sind Stefan Pettersson und Litmanen, die Skandinavier in meinen ersten Jahren bei Ajax; dann Luis Enrique und Luis Figo bei Barcelona; Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger bei Bayern. Und ich muss auch einen Niederländer nennen, nämlich Arjen Robben. Ich habe ihn von Real Madrid zu Bayern geholt. Er war für mich sofort sehr wichtig für Bayern und später dann auch in der Nationalmannschaft. Denn er war nicht nur kreativ und torgefährlich, sondern hatte auch eine sehr professionelle Einstellung. Das ist bei Spielern seiner Statur eine Ausnahme.

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Die nächste FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ findet 2022 statt. Würden Sie es in Erwägung ziehen, wenn ein Land kurz vor Turnierbeginn bei Ihnen anfragen würde, ob sie das Team bei der WM betreuen?

Eine WM ist immer eine ganz besondere Sache, denn sie ist die größte Bühne, auf der man sein Können zeigen kann – als Spieler, als Team und auch als Trainer. Ich ziehe jedes Angebot in Erwägung, das habe ich auch in den vergangenen drei Jahren immer getan. Im vergangenen Jahr gab es ein paar sehr gute Gelegenheiten, bei denen es mir sehr schwer fiel, nein zu sagen. Ich würde ein solches Angebot also erwägen, aber es fällt mir heute leichter, nein zu sagen. Wenn es aber eine besonders große Chance ist, würde ich es möglicherweise tun. Das hängt allerdings auch davon ab, wie ich mich in dem Moment fühle. Zurzeit genieße ich unsere neue Lebensweise.

Gibt es Klubs, die Sie gern trainiert hätten, wofür sich aber keine Gelegenheit ergeben hat?

Ich habe in vier Ländern gearbeitet, und zwar überall mit dem jeweiligen Spitzenklub – vier der größten Klubs der Welt. Mehr hätte ich mir wirklich nicht wünschen können. Dass Manchester United der Spitzenklub in England ist, war übrigens auch der Grund, warum ich mich für sie und nicht für Tottenham Hotspur entschieden habe.

Die Niederlande sind mit einer Riesenüberraschung in die FIFA Fussball-WM Brasilien 2014™ gestartet, nämlich mit einem 5:1-Sieg gegen Titelverteidiger Spanien, der zudem zwei Mal in Folge die Europameisterschaft gewonnen hatte. Wie haben Sie die Taktik entwickelt, um das Tiki-Taka zu entzaubern?

Ich habe mich für Konterspiel entschieden, weil die Spanier spielerisch stärker waren als meine Akteure. Damit haben wir die spanischen Verteidiger dazu gebracht, sehr hoch zu spielen. Im Angriff hatte ich absolut erstklassige Spieler zur Verfügung, Arjen Robben und Robin van Persie. Und ich wusste, dass ich mit Wesley Sneijder und Daley Blind auch Akteure hatte, die in der Lage waren, die beiden mit perfekten Pässen in Szene zu setzen.

Es war ziemlich schwierig, ein ganz anderes System zu spielen als in der Qualifikation, aber ich wusste ja, dass wir jederzeit zu unserer klassischen Spielweise zurück konnten. Und es ist uns gelungen, unser System in den Spielen an die jeweilige Situation anzupassen. Gegen Mexiko gerieten wir in Rückstand, also musste ich etwas umstellen. Dank unserer traditionellen Spielweise haben wir zwei späte Tore erzielt und gewonnen.

Im Viertelfinale gegen Costa Rica haben Sie Torhüter Tim Krul für das Elfmeterschießen eingewechselt. Was steckte dahinter?

Wir wussten schon vor der WM, dass unser erster Torhüter Jasper Cillessen bei Elfmetern nicht besonders gut war. Seitdem hat er ein paar gehalten, aber damals eigentlich noch keinen einzigen. Wir hatten noch zwei weitere Torhüter dabei. Für mich war Tim Krul mit seiner Größe, seiner Physis, seiner Reichweite, der beste Kandidat. Außerdem wollten wir mit dem Wechsel des Torhüters vor dem Elfmeterschießen den Gegner unter Druck setzen. Sie sollten diesen großen Torhüter sehen, der extra für die Elfmeter aufs Feld kam, und sie sollten denken: 'Der ist ein Spezialist, er wird jeden Elfer halten'. Das sollte sie irritieren.

Die Niederlande haben gegen Spanien mit 5:1, gegen Chile mit 2:0 und gegen Brasilien mit 3:0 gewonnen und zum Teil atemberaubenden Fussball gezeigt. Denken Sie, dass sie das beste Team bei der WM waren?

Nein… aber vielleicht doch. Ich glaube an die Stärke des Teams, nicht an die Stärke einzelner Spieler. [Lionel] Messi war eine solche Figur bei Argentinien. Ich denke, mit unserem Teamgeist und unserer Taktik hätten wir die WM vielleicht gewinnen können. Deutschland war sicher ein verdienter Sieger, aber ich denke, wenn wir im Finale gegen die Deutschen gespielt hätten, dann hätten wir gute Chancen gehabt.

Sie haben ganz sicher gesehen, wie sich Ajax in der UEFA Champions League gegen Juventus Turin durchgesetzt hat?

Ja. Die zweite Halbzeit war wirklich herausragend! Kreativer Fussball mit einer perfekten Balance aus Angriff und Abwehr - das ist der Trick. Ajax hat sehr viele sehr kreative Spieler. Ich habe es schon nach den Spielen gegen Bayern München in der Gruppenphase gesagt: Ajax kann den ganzen Weg bis zum Ende schaffen. Aber die besten Teams sind noch im Rennen.

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