Freitag 19 Februar 2016, 08:35

Scifo: "Ich habe mit 30 angefangen zu leben"

"Nein", antwortet Enzo Scifo lachend auf die Frage, ob er etwas für seinen 50. Geburtstag geplant habe. "Aber ich denke, es wird etwas für mich vorbereitet werden. Das sagt mir mein kleiner Finger." Anlässlich seines besonderen Ehrentages am 19. Februar gewährte der legendäre belgische Spielmacher FIFA.com ein Exklusivinterview, in dem er eine Bilanz seiner fünf Lebensjahrzehnte zieht.

Der Sohn italienischer Einwanderer blickt auf die wichtigsten Etappen zurück, die aus ihm den Mann gemacht haben, der er heute ist: Von seinen Anfängen im Kindesalter als leidenschaftlicher Straßenkicker in La Louvière bis hin zur Umschulung zum Trainer. Ein strahlender Fünfziger, der stolz darauf ist, seit Sommer 2015 an der Spitze der Juniorenauswahl die Zukunft des belgischen Fussballs mitzugestalten.

Enzo, welche Beziehung haben Sie zu Ihren Geburtstagen? Ehrlich gesagt habe ich keine Probleme damit. Vor der 40 hatte ich ein bisschen Angst, weil du zwangsläufig immer Leute um dich herum hast, die das schon durchgemacht und nicht gut verkraftet haben. Aber ich selbst hatte wirklich keinerlei Schwierigkeiten damit. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber 50 zu werden ist für mich genauso! Ich habe nicht das Gefühl, dass sich groß etwas ändern wird, außer ein paar mehr Falten. Ich habe damit kein Problem. Darin ähnele ich ein wenig meinem Vater.

Sie mussten am vergangenen 16. Januar den schmerzlichen Verlust ihres Vaters Agostino erleben. Wie gehen Sie diese Grenze der 50 nach einem solchen Trauerfall an? Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken. Ich musste mich einen Monat lang innerlich sammeln und bin kaum ausgegangen. Ich wollte ein wenig mit ihm allein sein. Auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten, aber wenn es geschieht, hat jeder seine Art, damit umzugehen. Er ist immer bei mir, irgendwo. Und ich werde versuchen, ihn mir für den Rest meiner Tage vor Augen zu halten. Mein Vater hat mir immer Mut gemacht und mich angespornt. Er hat mir diese Entschlossenheit vermittelt, um Schwierigkeiten gegenüberzutreten - und davon habe ich im Verlauf meiner Karriere einige gehabt. Ich hatte viele schöne Momente, aber wenn ich schwere Zeiten durchmachte, war er immer sehr wertvoll für mich. Er war furchtlos und hatte vor nichts und niemandem Angst, während mein Bruder, meine Schwester und ich selbst eher zurückhaltend waren. Ab und zu schritt er energisch ein und sagte: "Auf geht’s, man muss sich durchsetzen." An seiner Seite habe ich in dieser Hinsicht viel gelernt. Und das hatte ich nötig.

Was erfüllt Sie im Rückblick auf Ihr Leben am meisten mit Stolz? Ohne anmaßend zu klingen, glaube ich nun ein Alter erreicht zu haben, in dem man eine gewisse Distanz und genügend Reife gewonnen hat, um objektiv zu sein. Ich bin besonders auf meinen Erfolg allgemein stolz, nicht nur als Fussballer, sondern auch in familiärer Hinsicht, denn ich habe eine tolle Familie. Mein schwerster Moment, das wiederhole ich oft, war der frühe Verlust meines Bruders. Er war ein Mensch, mit dem ich mein Leben geteilt habe. Er war eine Hälfte von mir. Wir standen uns sehr nahe. Er ist mit nur 42 Jahren nach einem Arbeitsunfall von uns gegangen. Das war der schwärzeste Punkt meines Lebens, weil ich keine logische Erklärung dafür finde, einen Bruder so früh unter solchen Umständen zu verlieren. Abgesehen davon habe ich getan, was ich tun wollte, und habe ein sehr gutes Umfeld. Das ist mein Erfolg: alles erreicht zu haben, was ich mir erhofft hatte, als ich 13 oder 14 Jahre alt war. Das heißt, beruflich erfolgreich gewesen zu sein und Kinder zu haben, die mir jeden Tag Lebensfreude geben.

Können Sie uns erzählen, wie der kleine Enzo im Alter von zehn Jahren war? Ich war ein sehr braver Junge, der nur eines im Kopf hatte: Fussball. Ständig habe ich in den Straßen meines Viertels gespielt. Ich war kein schlechter Schüler, doch wegen des Fussballs kam ich nie auf genügend Punkte, um problemlos durch mein Jahr zu kommen. Aber ich schaffte es trotzdem, indem ich die letzten drei Monate vor den Prüfungen paukte. Zwischen sieben und zwölf habe ich keine anderen Erinnerungen als den Fussball. Nach der Schule ging ich immer mit meinen Freunden spielen. Die Straße hat mich ausgebildet, das hat meinen Stil geprägt. Ich sage den jungen Spielern heute immer: Es war unser ganzes Leben. Das hat es uns ermöglicht, im Sport erfolgreich zu sein. Wir hatten diese Leidenschaft und dachten nur an den Fussball. Wir hatten keine Playstation, wir hatten nur das! Es ist die beste Schule, die man sich denken kann, auch wenn man außerdem Trainer haben kann, die uns später ein wenig korrigieren. Den Ball gegen eine Mauer zu schießen, um pausenlos seine Bewegungen zu verbessern. Zwischen den Autos spielen und den Ball im richtigen Moment annehmen. Aber vor allem Stunden um Stunden zu spielen. Das ist alles, das ist das einzige Geheimnis.

Folglich müssen Sie mit 20 wunschlos glücklich gewesen sein! Sie waren seit drei Jahren Profi und wurden zum besten jungen Spieler der WM 1986 gewählt... Ich war glücklich, ja, und gleichzeitig weniger glücklich, weil ich zu schnell angekommen war. Es geschah nicht bewusst, aber ich hatte schon einige Jahre in der ersten Liga hinter mir, in denen ich mich ausgezeichnet hatte. Vielleicht gab ich mir nicht mehr die gleiche Mühe, um mich zu verbessern. Die Phase um die 20 war die schwerste Zeit. Das dauerte an, bis ich 22 war. Mit 23 begann ich, wieder in Gang zu kommen. Ich hatte das Glück, die richtigen Menschen zu treffen, die mir klar machen konnten, dass ich nicht auf dem rechten Weg war. Als ich das verstand, habe ich mich selbst hinterfragt und damit begonnen, wieder wie ein Irrer zu arbeiten. Dies führte dazu, dass ich mich bald wieder zurechtfand. Wenn ich heute einen jungen Spieler mit Problemen sehe, verurteile ich ihn nicht, sondern versuche zu verstehen, ob er noch motiviert ist. Wenn die Motivation vorhanden ist, versuche ich ihm zu helfen, indem ich ihm erzähle, was ich erlebt habe. Arsène Wenger hat einmal zu mir gesagt, dass alle jungen Spieler diese Probleme durchmachen, und es stimmt. Das bedeutet, dass die Trainer in solchen Momenten eine wichtige Rolle spielen, um ihnen dabei zu helfen, die Phase zu überstehen.

Im Alter von 30 Jahren feierten Sie an der Seite von Fabien Barthez, Thierry Henry oder Emmanuel Petit große Erfolge bei AS Monaco. Wie haben Sie sich in jener Zeit gefühlt? Es ist ein Alter, in dem man eher am Ende seiner Karriere ist. Aber ich habe schöne Erinnerungen an meine 30er, denn ich war reifer. In jedem Fall habe ich mit 30 erst richtig angefangen zu leben. Es ist ein Alter, in dem man spürt, dass man genügend Argumente hat, um sich zu behaupten. Man hat etwas erlebt, ist seit einigen Jahren Vater, verfügt über die finanzielle Sicherheit, die einen ruhiger leben lässt. Ich mochte meine 30er.

Und mit 40 waren Sie bereits seit fünf Jahren Trainer... Das Alter mochte ich auch. Meine Karriere als Spieler war zu Ende, aber ich begann ein neues Leben, das ich mit großer Entschlossenheit und Erfahrung angegangen bin. Ich komme sehr gut mit dem Druck zurecht, der den Trainerberuf umgibt. Der Stress hat mich nie aus der Bahn geworfen, im Gegenteil. Da ich ein sehr ruhiger Mensch bin, bringt es mich in Schwung, wenn ich etwas Stress habe.

Und wie fühlen Sie sich heute? Macht es Sie besonders stolz, den Nachwuchs des belgischen Fussballs zu formen? Ich fühle mich gut. Ich genieße es, weil ich das Glück habe, sowohl mental als auch körperlich noch fit zu sein. Ich mache das, was ich machen wollte, also läuft alles gut. Es macht mich wirklich sehr stolz, die Leitung der Junioren innezuhaben mit dem Ziel, sie an die A-Nationalmannschaft heranzuführen. Wir wissen, dass unsere Nationalmannschaft ein Vorbild ist. Es ist also sehr motivierend und eine große Ehre, beim Verband zu arbeiten und an einem solchen Projekt beteiligt zu sein. Wir haben das Glück, derzeit einige hochklassige Generationen zu haben. Das müssen wir so gut wie möglich bewahren und dafür sorgen, dass es so lang wie möglich fortdauert. Und dafür sind wir mehrere Leute. Hinter Marc Wilmots und mir stehen viele andere Personen, die für diese Arbeit verantwortlich zeichnen. Wenn wir unsere Sache gut machen, kann es für den belgischen Fussball noch die nächsten zehn bis 15 Jahre so weitergehen.

Eine letzte Frage: Wo sehen Sie sich mit 60? Offen gesagt, habe ich keine Ahnung, was in zehn Jahren sein wird. Schon als Spieler habe ich nie zu weit in die Zukunft gesehen. Ich bin sehr bodenständig. Heute arbeite ich im Fussball. Was morgen ist, weiß ich nicht. Alles hängt davon ab, welche Möglichkeiten sich ergeben, doch heute sehe ich mich weder als Nationaltrainer noch sonst irgendwo als Trainer. In unserem Beruf geht alles so schnell, sowohl im Guten wie im Schlechten. Ich nehme es, wie es kommt. Wenn ich meine Arbeit gut mache, ergeben sich die Möglichkeiten von ganz alleine. Eines ist sicher: Wenn ich in zehn Jahren so wie heute an einem solchen Projekt beteiligt sein kann, unterschreibe ich sofort. Denn für mich geht es nicht nur darum, Auswahltrainer der Junioren zu sein, sondern auch darum, mit Marc Wilmots und für den Erfolg Belgiens zu arbeiten. Aufgrund meiner Erfahrung als Spieler und angesichts der heutigen Situation bin ich fest davon überzeugt, dass diejenige Person, welche an der Spitze der Mannschaft steht, gute Arbeit leistet. Das ist kein Zufall. Sicher, wir haben das Glück, eine gute Generation zu haben, doch man muss sie auch zu führen wissen. Kein anderer als Wilmots kann eine so gute Leistung verwirklichen, davon bin ich überzeugt. Er leitet diese Gruppe gut und hat diese Fähigkeit, seine Stars zu motivieren, die alle in den größten Vereinen spielen. Für mich ist das ein vorbildliches Beispiel, und ich befinde mich in einer idealen Ausgangslage, um mich in dem weiterzuentwickeln, was ich machen will.