Mittwoch 15 Juni 2022, 08:00

Oliver Neuville: "Wir waren ein super Team"

  • Am 15. Juni 2002 erzielte Neuville im WM-Achtelfinale das Siegtor für Deutschland gegen Paraguay

  • Im Finale gegen Brasilien trennt ihn der Pfosten vom großen WM-Ruhm

  • Für Katar 2022 sieht er gute Chancen für das DFB-Team

69 Länderspiele und 10 Tore für Deutschland hat Oliver Neuville in seiner Vita stehen. Bei drei großen Turnieren hat er Deutschland vertreten. Trotzdem wurde der heute 49-Jährige oft unterschätzt – zu Unrecht. Denn der gebürtige Schweizer, der sich 1998 für die DFB-Auswahl entschied, wusste stets mit Einsatzfreude, Schnelligkeit und Torgefahr zu überzeugen. Nicht nur im deutschen Nationaltrikot – auch bei seinen Vereinen, für die er zuverlässig und sehr regelmäßig Tore erzielte. Im Interview mit der FIFA blickt der sympathische Ex-Nationalstürmer auf die WM 2002 zurück und erzählt unter anderem von seinem Siegtor gegen Paraguay und seinem Pfostentreffer im Finale gegen Brasilien.

FIFA: Herr Neuville, Sie sind nach Ihrem Karriereende 2011 dem Fußball stets treu geblieben. Seit drei Jahren sind Sie als Assistenz-Trainer bei den Profis von Borussia Mönchengladbach tätig. Was genau machen Sie dort? Neuville: Ich bin momentan vor allem für die französischsprachigen Spieler verantwortlich. Ich übersetze für sie zum Beispiel Anweisungen bei den Trainingseinheiten und bei der Videoanalyse. Aber natürlich gebe ich als ehemaliger Stürmer den Jungs auch mal den ein oder anderen Tipp auf dem Rasen.

Sie sprechen neben Deutsch auch noch fließend Italienisch, Französisch und Spanisch. Als Sie 1998 Nationalspieler wurden, brauchten Sie selbst noch einen Dolmetscher, weil Sie in der italienischsprachigen Schweiz aufgewachsen sind. Hilft Ihnen diese Erfahrung von damals heute in ihrem Job weiter? Ja natürlich, aber ich muss auch sagen, dass Fußball eine universelle Sprache ist und das meistens auch so gut funktioniert. Aber natürlich ist es für den Chef-Trainer eine große Hilfe, wenn jemand da ist, der die Anweisungen noch einmal detailliert in die jeweilige Sprache übersetzen kann.

Marcus Thuram und Oliver Neuville

Lassen Sie uns zurückblicken. Vor 20 Jahren fand die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Korea/Japan 2002™ statt. Wenn wir zunächst mal vom Sportlichen absehen – welche Erinnerungen haben Sie an das Turnier? Ich erinnere mich sehr gerne daran zurück. Die Atmosphäre in den neuen Stadien war einfach super. Auch die Menschen vor Ort waren großartig. Ich weiß noch, dass die Japanerinnen jedes Mal wegen Carsten Jancker ausgeflippt sind. Die hatten noch nie zuvor einen so großen Mann gesehen. (lacht)

Was hat das deutsche Team damals so stark gemacht und wie haben Sie Ihre persönliche Rolle im Team von Rudi Völler wahrgenommen? Wir waren einfach ein super Team – eine Einheit. Niemand hatte uns zugetraut, dass wir das Finale erreichen. Wir mussten in der Qualifikation den Umweg über die Playoffs gegen die Ukraine gehen und auch die Vorrunde bei der WM war kein Selbstläufer – trotz des 8:0-Sieges gegen Saudiarabien. Spätestens nach dem letzten Gruppenspiel gegen Kamerun hatten wir das Gefühl, dass wir beim Turnier etwas erreichen können. Wir haben immer an uns geglaubt. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass man als geschlossene Mannschaft, die sich auch außerhalb des Platzes gut versteht, viel mehr erreichen kann als mit 22 individuellen Weltklassespielern. So habe ich auch meine eigene Rolle gesehen – als Teil einer Einheit. Zunächst kam ich von der Bank, später im Turnierverlauf war ich dann gesetzt.

War es eine weitere Qualität des Kaders, dass man gerade im Angriff viele verschiedene Spielertypen hatte und Rudi Völler daher auch alle Stürmer zum Einsatz kommen ließ? Absolut. Jeder von uns hatte seine eigenen Stärken. Carsten Jancker war ein robuster Stoßstürmer, der Bälle festmachen konnte. Miro Klose war noch jung, aber sehr kopfballstark und er hatte einfach einen Torriecher. Oliver Bierhoff hatte sehr viel Erfahrung und war auch kopfballstark. Ich kam vor allem über meine Schnelligkeit. Das war eine gute Mischung und hat sich gegenseitig sehr gut ergänzt.

Neuville trifft zum Sieg gegen Paraguay

Im Achtelfinale gegen Paraguay standen sie das erste Mal im Turnier in der Startelf. Es war kein einfaches Spiel, aber mit Ihrem 1:0-Siegtreffer kurz vor Schluss wurden Sie zum Matchwinner. Haben Sie diese Szene noch genau im Kopf? Es war eine super Flanke von Bernd Schneider von der rechten Seite. Der Abschluss war gar nicht so leicht, weil der Ball unmittelbar vor mir noch einmal aufgesprungen ist. Aber ich habe ihn perfekt per Dropkick mit der Innenseite getroffen – ein schönes Tor. Last-Minute-Tore wie dieses pushen eine Mannschaft natürlich enorm – gerade in der K.o.-Runde, wo jedes Spiel ein Endspiel ist.

Sie haben in Ihrer Karriere viele Tore geschossen. Würden Sie sagen, dass dieses Tor gegen Paraguay das Wichtigste von allen war? Das ist schwer zu sagen. In der Nationalmannschaft vielleicht schon, aber ich habe auch auf Vereinsebene wichtige Tore geschossen. Zum Beispiel die beiden Treffer im Champions League-Halbfinale 2002 gegen Manchester United. Aber das Tor gegen Paraguay war natürlich dennoch eines der wichtigsten.

Werden Sie eigentlich häufiger auf dieses Tor oder das Tor gegen Polen bei der Heim-WM 2006 angesprochen? Definitiv auf das Tor gegen Polen. Vermutlich aufgrund der Euphorie damals beim Spiel in Dortmund, wo auch viele polnische Fans im Stadion waren. Es war eben das Sommermärchen im eigenen Land.

Zurück zur WM 2002: Es folgten zwei weitere knappe 1:0-Siege gegen die USA und Korea Republik – jeweils durch Tore von Michael Ballack. Im Finale war er dann gelbgesperrt. Wie bitter war dieser Ausfall für das Team? Er hatte bis dorthin ein super Turnier gespielt und war gut drauf. Dementsprechend hat er uns natürlich gefehlt und es war schwer für uns. Aber auch für ihn persönlich. Ein WM-Finale wegen zwei gelber Karten zu verpassen ist echt hart.

Sie standen im Finale gegen Brasilien wieder in der Startelf. Wie fühlt man sich, wenn man beim wichtigsten Fußballspiel der Welt auf dem Platz steht und die Nationalhymnen gespielt werden? Das ist schon etwas ganz Besonderes. Als Kind träumt man von so etwas. Ich hatte ja kurz zuvor schon das Champions League-Finale gespielt. Aber ein WM-Finale lässt sich mit keinem anderen Spiel vergleichen. Die Aufmerksamkeit war enorm. Man weiß natürlich auch, wie viele Menschen das Spiel sehen werden. Auch der Weg von unserem Hotel zum Stadion… Ich habe noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Das kann man einfach mit nichts vergleichen.

Deutschland vor dem WM-Finale 2002

Sie wären kurz nach der Halbzeit beinahe zum Helden geworden. Aber Ihren Freistoß-Hammer aus gut 30 Metern lenkte Marcos beim Stand von 0:0 noch irgendwie an den Pfosten. Denken Sie im Nachhinein manchmal, Deutschland wäre Weltmeister geworden, wenn der Ball reingegangen wäre? Tja, wer weiß. Das kann man leider nicht mehr ändern. Aber wenn wir 1:0 in Führung gegangen wären, wären unsere Chancen natürlich deutlich gestiegen. Ich stand mit Didi Hamann und Bernd Schneider beim Freistoß und sagte nur "Bernd, ich schieße", weil ich ein gutes Gefühl hatte. Aber der Torwart war noch mit den Fingerspitzen dran. So ist das eben manchmal im Fußball, da entscheiden wenige Zentimeter. Jens Jeremies sagt noch heute manchmal mit einem Augenzwinkern zu mir: "Dein Freistoß war zu schlecht geschossen!" (lacht)

Am Ende stand es dann 0:2 aus deutscher Sicht. Können Sie sich an die Momente nach dem Schlusspfiff erinnern? Wie lange hat sie diese Niederlage beschäftigt? Auch wenn keiner damit gerechnet hatte, dass wir es ins Finale schaffen, waren wir natürlich unfassbar enttäuscht. Es war einfach brutal bitter, weil wir so nah dran waren, Weltmeister zu werden. Es war vermutlich unser bestes Spiel bei der WM 2002 – und das haben wir verloren. Das beschäftigt einen danach natürlich. Und das dauert auch. Aber irgendwann ist diese Trauer weg. Trotzdem ist es natürlich noch immer bitter, wenn ich heute an meinen Pfostenschuss zurückdenke. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie unmittelbar nach dem Spiel.

Neuville beim Freistoß gegen Brasilien

Sie hatten eine beeindruckende Karriere und standen in vielen großen Spielen. WM-Finale, CL-Finale, DFB-Pokalfinale, UEFA Cup-Halbfinale und Sie waren im Jahr 2000 schon fast sicher deutscher Meister. Am Ende hat es immer ganz knapp nicht gereicht. Ärgert Sie das heute noch manchmal? Die Niederlage im Champions League-Finale 2002 [mit Leverkusen] war brutal. Wir haben damals echt richtig guten Fußball gespielt und waren in der zweiten Halbzeit klar besser als Real Madrid. Das tut dann schon echt weh. Auch die verpasste Meisterschaft in Unterhaching… Wir haben in der ganzen Saison nur drei Spiele verloren und werden am Ende aufgrund der Tordifferenz nicht Meister.

Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wie schätzen Sie die Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der diesjährigen WM in Katar ein? Die Chancen stehen besser als bei uns 2002, denn mit uns hatte damals keiner gerechnet. Wir haben aktuell eine gute Mannschaft und mit Deutschland ist bei Turnieren immer zu rechnen.

Haben Sie einen Favoriten auf den Titel? Das ist schwer zu sagen. Ich rechne aber nicht mit einer Überraschung. Am Ende sind es meistens die großen Teams, die das unter sich ausmachen. Brasilien, Argentinien, Spanien und Frankreich sind für mich alle Mitfavoriten.

Oliver Neuville und Luigi di Biagio