Dienstag 23 Februar 2021, 17:28

Nesbitt: Analytikerin unter den Assistentinnen

  • Kathryn Nesbitt wurde in der MLS Schiedsrichterassistentin des Jahres

  • Erste Frau, die diese Auszeichnung erhält

  • Nesbitt spricht in einem Exklusiv-Interview mit FIFA.com über das Schiedsrichterwesen

Kathryn Nesbitt kam im Dezember als erste Frau im nordamerikanischen Männerfussball bei einem Finalspiel als Offizielle zum Einsatz, als sie im MLS-Cup-Finale zwischen Columbus Crew und den Seattle Sounders als Schiedsrichterassistentin fungierte. Doch für Eingeweihte war Nesbitts Nominierung alles andere als eine Überraschung. Zuvor war sie Anfang 2020 nämlich schon im Finale des MLS is Back-Turniers zum Einsatz gekommen, der Wiederaufnahme der Meisterschaft nach der COVID-19-Unterbrechung, und stand damit als erste Frau im Schiedsrichtergespann eines Ligafinales. Darüber hinaus hatte sie in der Abstimmung für die Auszeichnung des besten Schiedsrichterassistenten der MLS die Nase vorn und sicherte sich den prestigeträchtigen Preis.

Wir wollten wissen, wie es überhaupt dazu kam, dass sie Schiedsrichterin geworden ist.

"Jeder geht seinen eigenen Weg", so Nesbitt im Gespräch mit FIFA.com. "Ich habe als Kind damit angefangen, es war ein Sommerjob. Dadurch bin ich zum Fussball gekommen und dem Sport schließlich verbunden geblieben. Ich bin wirklich gern aktiv. Auch als Schiedsrichterin hast du einen gewissen Wettkampf, und für mich war es super, darum zu kämpfen, bei etwas die Beste zu sein, was dich sportlich fordert. Das hat mich motiviert, damit weiterzumachen."

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Nesbitts Leidenschaften außerhalb des Fussballs sind analytische Chemie und der Lehrerberuf. Auf den ersten Blick scheinen beide Dinge mit dem Fussball überhaupt nichts gemein zu haben, tatsächlich gibt es jedoch Verbindungen.

"Bis zwei Wochen vor der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2019™ habe ich noch als Dozentin für Chemie gearbeitet. Ich habe zehn Jahre lang selbst geforscht und hatte an der Uni mein eigenes Labor (Towson University in Baltimore). In meiner Forschung ging es darum, bessere Möglichkeiten zur Analyse von Neurotransmittern zu finden, und unser Labor war mit der Entwicklung, Verbesserung und Optimierung der Techniken zur Entnahme und anschließenden Analyse von Neurotransmittern befasst."

Sie war schon immer analytisch veranlagt, eine Begabung, die ihr sicherlich auch als Schiedsrichterassistentin zugutekam.

"Du triffst immer Entscheidungen, und sie sind nicht immer schwarz und weiß", so Nesbitt. "Du musst in der Lage sein, viele Daten gleichzeitig zu erfassen – was bei einem Tackling genau passiert, die Reaktion des Spielers, den Spielverlauf – und dann die bestmöglichen Entscheidungen treffen.

"Außerdem sind Schiedsrichter mit sehr viel Einsatz bei der Sache. Wir nehmen die Spiele genauso ernst wie die Spieler. Unsere Vorbereitung unterscheidet sich gar nicht so sehr von der der Spieler.

"Es gibt natürlich glasklare Entscheidungen. Wenn ein Verteidiger einen Angreifer zu Fall bringt, der zwei Meter vom Tor entfernt ist, dann ist das immer das Verhindern einer Torchance, aber so klar ist es eigentlich fast nie. Außerdem gleicht im Fussball kein Szenario dem anderen. Das Spiel verändert sich ständig. Meine wichtigste Aufgabe als Schiedsrichterassistentin ist die Überwachung der Abseitsregel, und da ist die Situation nicht immer so klar, wie es auf den ersten Blick erscheint."

Sie ist eine Fachfrau durch und durch, die vielen den Weg geebnet hat. Bei der FIFA arbeiten wir an einer Zukunft, in der das Geschlecht kein Hindernis für die Entwicklung und Ernennung von Schiedsrichtern darstellt. Katy ist ein leuchtendes Beispiel...
Kari Seitz, Leiterin für Schiedsrichter (Frauen)

Nesbitt gab ihr Profidebüt im Jahr 2013 anlässlich des ersten Spiels der National Women's Soccer League (NWSL) vor zahlreichen Zuschauern. Anders als man vielleicht vermuten würde, sorgen volle Stadien laut Nesbitt dafür, dass sie noch konzentrierter an die Sache herangeht. Aufgrund der Pandemie

musste sie sich im letzten Jahr allerdings daran gewöhnen, ihre Arbeit nahezu ohne Geräuschkulisse zu verrichten. Sie verbrachte als Mitglied des Schiedsrichterteams des MLS is Back-Turniers sieben Wochen in "der Blase". Das Turnier fand vom 8. Juli bis zum 11. August statt.

"In den ersten paar Tagen waren alle etwas nervös, weil wir nicht wussten, wie das alles funktionieren würde, aber dann haben wir uns an die Situation gewöhnt und uns relativ wohl und sicher gefühlt", meint sie. "Ich rechne es der MLS hoch an, dass sie uns dabei unterstützt hat. Wir waren wirklich abgeschottet. Wir konnten überhaupt nicht aus der 'Blase' raus."

"In dieser Atmosphäre bist du, zumindest als Schiedsrichterin, so sehr auf den Fußball und deinen Job fokussiert, dass du auf diese Spiele besser vorbereitet bist als sonst. Du bist praktisch den ganzen Tag nur mit dem Fussball beschäftigt."

Doch Schiedsrichter sind auch nur Menschen. Wir wollten wissen, wie mental belastend solche Turniere sein können.

"Die Tatsache, dass du die ganze Zeit nicht bei deiner Familie sein kannst, ist auf jeden Fall belastend", so Nesbitt. "Das ist wahrscheinlich das Schwierigste. Das Hotel, in dem wir untergebracht waren, hatte tolle Einrichtungen. Wir waren eine großartige Truppe motivierter Offizieller."

"Selbst an schwierigen Tagen, an denen du um 9.00 Uhr früh in der Hitze von Orlando auf dem Platz stehen musstest und dann den Rest des Tages total erschöpft warst, konntest du dich auf ein gemeinsames Abendessen mit deinen Freunden freuen und das alles bewältigen. Ein Glück, dass es Video-Chats gibt. Wir haben alle Blumen an unsere Partner zu Hause geschickt, um sie bei Laune zu halten."

Nesbitt ist sich der Wahrnehmung von Schiedsrichtern bei Fans, Spielern und Trainern sehr wohl bewusst.

"Wir wissen, dass wir die Buhmänner sind", meint sie. "Wenn wir Fehler machen, dann ist das menschlich. Schiedsrichter versuchen, das Spiel bestmöglich zu leiten, und wir wollen die Besten in unserem Job sein. Wir sind genauso aufgebracht wie alle anderen, wenn uns ein Fehler unterläuft."

Wir fragen, wie der Job an der Seitenlinie sie verändert hat und woran sie festmacht, dass sie heute ein andere Mensch ist als vor einiger Zeit.

"Vor allem habe ich gelernt, wie man etwas Positives aus einer Situation mitnimmt, und wende dies in vielen Bereichen an. Die beste Leistung bringe ich, wenn ich zufriedener und positiver bin, unglaubliche Chancen nutze und nichts als selbstverständlich ansehe. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, der auch in meinem Familienleben und zu Hause zum Tragen kommt."

Nesbitt ist Fussballfan, genau wie wir alle. Sie ist ausgebildete Video-Schiedsrichterassistentin und betont, dass "niemand das Spiel verlangsamen will".

Als Schiedsrichterassistentin muss sie nicht nur Abseitssituationen richtig beurteilen. Sie muss entscheiden, ob der Ball die Seitenauslinie überschritten hat, den Schiedsrichter bei Foulspiel-Entscheidungen unterstützen, bei Elfmeterentscheidungen mitwirken und die Liste lässt sich noch beliebig fortsetzen. Außerdem muss sie regelmäßig mit Konfrontationen fertig werden.

"Jeder entwickelt da seine eigene Strategie. Einige sind streng und ernst, andere ruhig und gelassen. Das sind Kompetenzen, die du lernen musst. Ich bin den Spielern gegenüber ziemlich direkt und proaktiv, und ich versuche zu verhindern, dass Situationen aus dem Ruder laufen."

So wie Nachwuchsspieler zu ihren Lieblingsspielern aufschauen, hat Nesbitt zweifellos aufstrebende Schiedsrichterinnen auf der ganzen Welt dazu inspiriert, ihr Bestes zu geben und die Spitze zu erreichen.

"Ich fühle mich wirklich geehrt, wenn Leute sagen, dass ich mittlerweile ein Vorbild für Frauen bin", meint sie abschließend.

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