Montag 08 Juni 2020, 07:44

Bühne frei für eine Sensation im San-Siro-Stadion

  • Kameruns Stammtorhüter Bell vor dem Spiel gegen Argentinien aus dem Kader genommen

  • Francois Omam-Biyick: "An Wunder glaube ich nicht"

  • Später wurde der Stürmer zum Matchwinner der Afrikaner

Wenige Minuten vor dem Anpfiff der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Italien 1990™ wirkt dieser Fan von Kamerun einsam und verloren. Ganz sicher überwog bei seinem Besuch im funkelnden, frisch renovierten San-Siro-Stadion die Hoffnung, denn große Erwartungen konnte er kaum haben. Schließlich musste "sein" Team, das größtenteils aus kaum bekannten Wandergesellen bestand, in wenigen Minuten gegen den amtierenden Weltmeister mit dem großen Diego Maradona antreten.

Selbst die kamerunischen Spieler schienen sich bereits im Vorfeld mit dem wohl unvermeidlichen Ausgang abgefunden zu haben. Stürmer Francois Omam-Biyick, der wie viele andere kamerunischen Akteure seine Brötchen bei einem unterklassigen französischen Verein verdiente, schlug schon vor dem Spiel eher gedämpfte Töne an. "Die Kluft zwischen den beiden Teams ist einfach zu groß und unüberwindlich", meinte er. "An Wunder glaube ich nicht."

Stammtorhüter Joseph-Antoine Bell war sogar noch pessimistischer und wurde kurzerhand aus dem Kader genommen, nachdem er in einem Zeitungsinterview geäußert hatte, sein Team habe "keine Chance, Argentinien - oder irgend einem anderen Team – Paroli zu bieten" und werde "sang- und klanglos nach der ersten Runde ausscheiden."

Doch dann kam alles völlig anders. Schließlich war es genau jener Omam-Biyik – der ja nicht an Wunder glaubte – der zum Matchwinner der Afrikaner wurde. Und der hier zu sehende Fan mit der Fahne war am Ende doch nicht so allein, wie er es wohl erwartet hatte. Zwar waren die meisten Zuschauer nicht zuletzt gekommen, um Argentiniens Nummer 10 zu sehen, doch nicht alle im San-Siro-Stadion wollten ihn mit ihrer Bewunderung überschütten. Schließlich hatte Maradona mit dem SSC Neapel gerade erst dem heimischen AC Mailand den Scudetto weggeschnappt. Maradona selbst meinte später, allein seine Anwesenheit habe dazu geführt, dass "das ganze Stadion Kamerun anfeuerte."

Die 0:1-Niederlage Argentiniens ist bis heute eine der größten Sensationen der Turniergeschichte. Argentiniens Trainer Carlos Bilardo sprach später vom schlimmsten Moment seiner gesamten Sportkarriere. Zwar führte er die Albiceleste in Italien erneut bis ins WM-Finale, doch er erinnerte sich noch lange an die Folgen der Auftaktniederlage gegen den krassen Außenseiter aus Afrika. "Jeder meinte mir sagen zu müssen, was zu tun wäre", erinnerte sich Bilardo. "Ich bekam Nachrichten vom Staatspräsidenten (Carlos Menem), ebenso wie von zwei früheren Präsidenten und auch vom Oppositionsführer."

Während allerdings Politiker und Experten über die von Bilardo zusammengestellte Mannschaft und die rustikale Spielweise der Kameruner herzogen, zeigte sich Argentiniens Superstar als fairer Verlierer. "Ich glaube nicht, dass sie vorhatten, uns niederzumachen, um das Spiel zu gewinnen", so Maradona. "Ich kann nichts beschönigen und ich habe keine Entschuldigung. Wenn Kamerun gewonnen hat, dann weil es die bessere Mannschaft war."

Die Unzähmbaren Löwen selbst ließen sich allerdings von ihrem Auftaktsieg gegen den schier übermächtigen Gegner nicht mitreißen. "Man sollte uns jetzt nicht zu Helden hochstilisieren", meinte beispielsweise Verteidiger Stephen Tataw hinterher. "Wir sind nur eine kleine Mannschaft mit geringen Mitteln. Ich glaube selbst jetzt noch nicht daran, dass wir es in die zweite Runde schaffen."

Doch Kamerun übertraf auch weiterhin die eigenen, bescheidenen Erwartungen, betrat als afrikanisches Team echtes Neuland und gewann dabei viele neutrale Anhänger für sich. Omam-Biyik gelang in seiner gesamten Karriere kein vergleichbar wichtiges Tor mehr wie der Kopfballtreffer, der Argentinien im San-Siro-Stadion besiegte. Doch auf die Frage nach dem großartigsten Moment seiner Karriere antwortete er trotzdem nur zögernd.

Dann sagte er schließlich "Ich war einer von ihnen. Und der schönste 'Moment', wenn ich die Bedeutung des Wortes etwas ausweiten darf, war unsere gesamte wundervolle Zeit damals in Italien."