Donnerstag 23 Juni 2016, 10:44

Bellone: "Meine Beine haben Samba gemacht"

Wir schreiben den 21. Juni 1986. Im Viertelfinale der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Mexiko 1986 steht Bruno Bellone alleine im Mittelkreis des Spielfelds in Guadalajara. Die Sonne brennt erbarmungslos. Der 25-jährige Angreifer steht vor der schweren Aufgabe, im Elfmeterschießen den dritten Versuch Frankreichs zu verwandeln, nachdem Les Bleus Brasilien in einer legendären Partie 120 Minuten lang die Stirn geboten hatten.

Wenige Minuten zuvor hatte Joël Bats einen perfekten Start in das Elfmeterschießen erwischt und den Schuss von Sócrates abgewehrt, bevor er gegen Alemão und anschließend Zico ohne Chance war. Der brasilianische Schlussmann Carlos wiederum war gegen Yannick Stopyra und Manuel Amoros machtlos gewesen und sah nun Bellone antreten, den Kopf gesenkt und voller Zweifel.

Der Linksfuß nahm Anlauf. Sein mächtiger Flachschuss prallte vom rechten Pfosten an den Rücken des brasilianischen Torwarts und wieder zurück ins Netz. Dieses unglaubliche Billardtor führte dazu, dass sich das Pendel zugunsten der Franzosen neigte, die nach dem entscheidenden von Luis Fernandez verwandelten Versuch den Sieg davontrugen (1:1, 3:4 i.E.).

Zusammenfassung Brasilien - Frankreich 1986

Carlos hat die Erinnerung an jenes Missgeschick nicht weiter gepflegt, denn es hat ihm trotz einer soliden Karriere und einer bis dahin tadellosen WM-Leistung den Ruf als Unglücksbringer beschert. "Eines Tages wollte jemand vom französischen Fernsehen mit mir über dieses Elfmeterschießen sprechen und ich wusste ehrlich gesagt nicht mehr, wer geschossen hat und in welcher Reihenfolge. Es hat keine Bedeutung mehr, es ist lange her. Ich fand es trotzdem interessant zu erfahren, dass der Franzose sehr nervös war und vor dem Schuss die Augen geschlossen hatte", spöttelte er wenige Jahre später.

Bellone hingegen hat die Begebenheit nicht vergessen und teilt seine Erinnerungen mit FIFA.com.

Bruno Bellone, wie fühlten sich die Franzosen vor diesem berühmten Elfmeterschießen? Wir litten enorm unter der Hitze. Ich kann Ihnen versichern, dass es eine beschwerliche Angelegenheit ist, auf einem Spielfeld in Mexiko einen Sprint zu machen.  Alles brennt und man hat Mühe, sich wieder zu erholen, jede Anstrengung ist brutal. Die Partie war sehr anstrengend und ich glaube, dass es ein wenig daran lag, dass wir danach gegen die Deutschen verloren haben. Körperlich haben die meisten von uns in diesem Viertelfinale, das auch noch in die Verlängerung ging, alles aus sich herausholen müssen. Es gab kaum Atempausen, der Ball ging fast nie ins Aus. In der Halbzeit hatten wir Sauerstoffflaschen in der Kabine! Ich bin erst in der Schlussphase reingekommen. Ich habe zwei oder drei Spurts gemacht und hatte am Ende das Gefühl, ein ganzes Spiel gemacht zu haben!

Welchen Eindruck machte der brasilianische Torwart Carlos auf Sie? Brasilien war ein Block. Sie hatten technisch sehr starke Spieler, eine robuste Abwehr, ein starkes Mittelfeld und Angreifer, die Vollgas gaben. Und dann der Torhüter. Damals hieß es, dass Brasilien noch nie einen guten Torhüter gehabt hatte.  An jenem Tag gegen uns hatte er in jedem Fall nicht besonders viel zu tun. Offen gesagt haben die Brasilianer das Spiel beherrscht. Wenn du als Torhüter in einer großartigen Mannschaft spielst, wirst du nicht allzu oft geprüft, selbst wenn du nur mittelmäßig bist.

Wie wurde die Reihenfolge der Schützen entschieden?Sie waren als Dritter dran...* Ich habe überhaupt nichts entschieden! Ich war Ersatzspieler, deshalb dachte ich, dass ich nicht auf der Liste stehen würde. * Sagen wir es so: Ein Spieler hat verzichtet. Henri Michel kam zu mir und sagte: "Du musst schießen, es gibt niemanden mehr." Ich hatte keine Lust, aber ich musste ran. Das habe ich erst dann richtig gemerkt, als ich im Mittelkreis stand.

Sie haben nie erfahren, wer verzichtet hat?Nein, ich habe die Liste von Henri Michel nicht gesehen. Das sind auch Dinge, über die man nicht spricht, denn hinterher... Ich verstehe, dass einen Spieler der Mut verlassen kann, denn ehrlich gesagt ist es ganz schön schwer, im Viertelfinale einer WM gegen Brasilien einen Elfmeter zu schießen. Außerdem verfolgte uns noch das, was im Halbfinale von 1982 gegen Deutschland passiert war, als Didier Six und Maxime Bossis ihre Elfmeter verschossen. Man sieht, was dies für Schäden angerichtet hat. Deshalb verstehe ich diejenigen, die sagen: "ich habe kein gutes Gefühl". Das ist besser als zu sagen "ich schieße" und hinterher zu vergeben. Ich weiß, dass Luis Fernandez darum gebeten hat, als Fünfter zu schießen. Er dachte: "Wenn ich treffe, bringe ich Frankreich den Sieg." Für ihn ist die Serie gut gelaufen! Der einzige, bei dem ich nicht gedacht hätte, dass er verschießt, war Platini. Das Problem war, dass er drüber geschossen hat.

Sprechen wir noch einmal über den Moment, als Sie alleine im Mittelkreis standen...Es ist furchtbar. Der Weg wird immer länger, denn es geht dir alles Mögliche durch den Kopf. Alles. Du denkst an deine Familie, an die Menschen vor den Fernsehern, an die Fans. Du denkst: "Wenn ich diesen Elfmeter verschieße, muss ich in einem Einbaum aus Mexiko zurückrudern." Vielleicht wäre ich auch nie zurückgekehrt und würde heute am Strand von Acapulco Ananas verkaufen! Nein, ehrlich, das ist furchtbar. In der Liga oder im Pokal einen Elfmeter zu schießen, okay. Aber bei einer WM, das ist nicht das Gleiche. Das Schlimme ist, was dir alles durch den Kopf geht. Außerdem fand das Elfmeterschießen auf der brasilianischen Seite statt und es waren ich weiß nicht wie viele Tausend Menschen hinter dem Tor, mit Samba und allem Drum und Dran - und meine Beine machten auch Samba!

Wie schossen Sie damals für gewöhnlich die Elfmeter? Ich schoss nie welche. Das war nicht mein Ding und ich überließ es denjenigen, die was davon verstanden. Es gibt Spieler, die machen das gerne, aber ich nicht. Ich trat nur an, wenn ich gezwungen wurde, wie an diesem Tag...

Wie fiel die Entscheidung, ihn auf diese Weise auszuführen?Der Torhüter hatte mich genervt. Bevor ich dort war, sprach er mit Zico und deutete mit Gesten an, wo ich hinschießen würde. Dann lege ich den Ball zurecht, und er bewegt ihn! Das hat mich genervt. Am Anfang wollte ich ihn flach in seine rechte Ecke platzieren, doch als es losging, hatte ich das Bedürfnis, hart auf seinen Kopf zu zielen und dass er reingeht. Am Ende ist genau das passiert, aber mit Hilfe des Pfostens.

Was haben Sie gedacht, als Sie gesehen haben, dass der Ball auf diese Weise reingeht?Ich dachte: "Das wäre geschafft, ich bin gerettet. Ich bin ruhig, ich kann nicht noch einmal drankommen. Ich kann nach Frankreich zurückkehren!" Es gab einige Brasilianer, die dachten, dass Tor sei ungültig. Das wäre der Fall gewesen, wenn ich den Ball noch einmal berührt hätte, aber im Grunde war es der Torwart, der ihn selbst reingemacht hat. Ich hatte keinen Zweifel. Ich kannte die Regeln.

Glauben Sie, dass die Brasilianer nach diesem Schicksalsschlag mental zusammengebrochen sind? Vielleicht haben sie gedacht, dass dies nicht ihr Tag ist. Ich hätte genauso reagiert, wenn ich auf der anderen Seite gestanden hätte. .

Und was haben Sie später im Rückblick gedacht?Ich habe gedacht, dass jemand da oben war, der auf mich aufgepasst hat. Ich habe an diesem Tag sehr viel Glück gehabt. Abgesehen von der Tatsache, dass ich meine Karriere relativ früh beenden musste, hatte ich in der französischen Nationalmannschaft und in der Liga großes Glück. Ich habe nur acht Jahre lang gespielt, und wenn man die Verletzungen abzieht, war das nicht sehr lange. Ich habe relativ wenig gespielt, habe aber den Spitzenfussball erreicht.