Montag 12 Oktober 2020, 16:14

70 Jahre im Zeichen freundschaftlicher Rivalität

  • Die DFB-Elf trifft am Dienstagabend in der UEFA Nations League auf die Schweiz

  • Vor 70 Jahren half der Schweizer Fussball dem DFB bei der Wiedereingliederung in die Fussballfamilie

  • Fussball zur internationalen Aussöhnung

Mit dem Gruppenspiel der UEFA Nations League zwischen Deutschland und der Schweiz steigt am Dienstagabend eine weitere Auflage des traditionellen Nachbarduells. Vielen der beteiligten Spielern dürfte dabei kaum bewusst sein, wie viel eines der beiden Fussballländer dem anderen zu verdanken hat.

2020 jährt sich zum 70. Mal die Wiedereingliederung Deutschlands in die internationale Fussballfamilie – eine Geschichte, die ohne die Unterstützung durch den Schweizerischen Fussballverband (SFV) so nicht denkbar gewesen wäre.

Im Abseits

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland politisch isoliert und stand vor der langen und beschwerlichen Aufgabe des Wiederaufbaus einer Nation – oder vielmehr, nach der Aufteilung in West- und Ostdeutschland, zweier Nationen.

Sowohl die BRD als auch die DDR wurden von der internationalen Gemeinschaft gemieden und waren von der Teilnahme an offiziellen Sportwettkämpfen ausgeschlossen. Im Juli 1946 bestätigte der 25. FIFA-Kongress denn auch das ein Jahr zuvor vom Exekutivkomitee ausgesprochene Verbot sportlicher Beziehungen zwischen FIFA-Mitgliedsverbänden und deutschen Verbänden und Vereinen, dies aufgrund des Fehlens einer nationalen Organisation, die "den Fussball in ihrem Einzugsgebiet leitet und in der Lage ist, Beziehungen zu Fussballorganisationen anderer Länder zu unterhalten", sowie basierend auf dem Grundsatz, Sport und Politik nicht zu vermischen.

Hilfe aus der Schweiz

Auch der SFV erkannte diesen Grundsatz an, argumentierte aber, dass genau deswegen die Politik keinen Einfluss auf sportliche Entscheidungen nehmen dürfe; zudem könne der Fussball zur internationalen Aussöhnung beitragen und einer jungen deutschen Bevölkerung aus der Isolation helfen. In der Folge stellte der damalige SFV-Präsident Ernst Thommen am 26. FIFA-Kongress im Juli 1948 den Antrag, den der FIFA angeschlossenen Verbänden zu gestatten, Freundschaftsspiele gegen deutsche Klubs auszutragen. Der Kongress verwies die Angelegenheit ans Exekutivkomitee, sodass der SFV weiterhin gezwungen war, die zahlreichen Einladungen deutscher Teams für Spiele gegen Schweizer Vereine auszuschlagen.

An der darauffolgenden Sitzung des Exekutivkomitees vom 6. Mai 1949 waren die Meinungen zwar geteilt, doch letztlich kam man überein, Klubs von FIFA-Mitgliedsverbänden vorläufig – und immer unter Voraussetzung der Zustimmung der Besatzungsmächte – die Teilnahme an Freundschaftsspielen gegen deutsche Vereine zu erlauben. Dieser Beschluss stellte für den SFV und für den Fussball als Brückenbauer zwischen den Nationen einen bedeutenden Etappensieg dar.

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Alles oder nichts

Der SFV gab sich damit jedoch noch nicht zufrieden und machte sich für die Wiederaufnahme des kurz zuvor reformierten Deutschen Fussball-Bunds (DFB) in die FIFA stark. Erneut war es Thommen, der im Juni 1950 die Plattform des 27. FIFA-Kongresses für den Antrag nutzte, die Rechtmäßigkeit des DFB anzuerkennen und die Wiederaufnahme sportlicher Beziehungen zwischen Klubs von FIFA-Mitgliedsverbänden und deutschen Vereinen zuzulassen. Obwohl mehrere Mitgliedsverbände den Vorschlag unterstützten, beschloss der Kongress, die endgültige Entscheidung dem Exekutivkomitee zu übertragen.

Dieses befasste sich am 23. September 1950 eingehend mit dem Thema und sprach sich schließlich einstimmig für die Wiederaufnahme des DFB aus. Noch am selben Tag übermittelte Thommen die frohe Botschaft per Telegramm an seinen deutschen Kollegen.

Der damalige Präsident des DFB, Dr. Peco Bauwens, schickte umgehend ein Dankesschreiben an Thommen und lud die Schweizer Nationalmannschaft dazu ein, das allererste Freundschaftsspiel gegen das neue westdeutsche Team auszutragen. Die beiden Verbände machten sich sofort an die Vorbereitungen, sodass Westdeutschland nach langen Jahren im sportlichen Abseits bereits am 22. November 1950 seine Länderspielpremiere nach dem Krieg feiern konnte. Über 100 000 Zuschauer strömten ins Stuttgarter Neckarstadion und bejubelten den 1:0-Sieg der DFB-Auswahl.

Wiedergeburt einer Fussballmacht

Das Vertrauen des SFV in die Kraft des Fussballs, Völker zusammenzubringen, bildete eine zentrale Grundlage für das Wiedererstarken des DFB und des deutschen Fussballs.

In den schweren Nachkriegsjahren wurde die westdeutsche Nationalmannschaft zu einem wichtigen Hoffnungsträger für die gebeutelte und demoralisierte Bevölkerung. Nur vier Jahre nach dem erfolgreichen Engagement des SFV gelang dem DFB-Team dann, was viele nie für möglich gehalten hätten: der Triumph bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 1954™. Gastgeber der WM war – wie konnte es auch anders sein – natürlich die Schweiz.

Das Endspiel wird deutschen Fussballfans für immer in Erinnerung bleiben und ging als das "Wunder von Bern" in die Sportgeschichte ein.

Im Hinblick auf den 70. Jahrestag jenes ersten Freundschaftsspiels in Stuttgart erklärte FIFA-Präsident Gianni Infantino: "Dieses Jubiläum ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie der Fussball die Menschen zusammenbringt und Schranken niederreißt. Während einer der dunkelsten Zeiten der Menschheitsgeschichte gab der Fussball den Menschen neue Hoffnung, und ohne den beherzten Einsatz des SFV wären uns wohl viele magische Momente der Fussballgeschichte versagt geblieben."

Seit dem Erfolg der legendären Auswahl um Spielführer Fritz Walter 1954 in Bern hat der deutsche Fussball immer wieder große Spieler und Teams hervorgebracht. So kennen denn auch Fussballfans in aller Welt die Namen der Kapitäne, die in Walters Fussstapfen traten und den FIFA WM-Pokal in die Höhe stemmten: Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm.

Wenn die beiden Nationen am Dienstagabend in Köln aufeinandertreffen, werden die Gastgeber ihren Gegnern auf dem Platz bestimmt keine Geschenke machen. Für die Schlüsselrolle, die der SFV bei der Rückkehr des deutschen Fussballs auf die Weltbühne gespielt hat, wird dieser seinem Nachbarn aber wohl für immer dankbar sein.