Mittwoch 31 März 2021, 16:32

"11 Spieler, die sich wie eine Person bewegen, machen mir Gänsehaut"

  • Arrigo Sacchi wird heute 75 Jahre alt

  • Prägte als Milan-Trainer die Entwicklung des modernen Fussballs

  • Vize-Weltmeister 1994 mit Italien

Der ehemalige Schuhverkäufer, den sie 1987 damit betraut hatten, die große AC Milan zu trainieren, hatte verrückte Vorstellungen. So wollte er unter anderem den Libero und die Manndeckung abschaffen.

Seine Spieler, die durchaus große Namen hatten, zweifelten. "Fünf Spieler, die organisiert sind, schlagen zehn Spieler, die nicht organisiert sind", ließ der Trainer seine Spieler wissen. Um es zu beweisen, instruierte er seine Viererkette um Franco Baresi und Paolo Maldini sowie seinen Torwart, wie sie mit ballorientierter Gegnerdeckung zu agieren hatten. Dann ließ er Angriffe auf diese fünf Spieler rollen, die Angreifer erhielten jedoch keine speziellen Instruktionen. Zuerst griffen vier Milan-Spieler an, dann fünf, dann sechs – am Ende spielten zehn Feldspieler auf das von der Viererkette und einem Torhüter verteidigte Tor. Das Trainingsspiel endete 0:0. Die Spieler – zu den Angreifern gehörten etwa Weltklassefussballer wie Ruud Gullit, Marco van Basten, Frank Rijkaard oder Carlo Ancelotti, waren überzeugt. Der Name des Trainers war Arrigo Sacchi. Der Mann, der heute 75 wird, sollte den Fussball prägen.

Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball.
Sacchi
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Sacchis Spielerkarriere war äußerst unspektakulär, über den Amateurstatus kam er nie hinaus und da er zu Beginn seiner Trainerkarriere nur kleine Vereine trainieren durfte, arbeitete er nebenher in der Schuhfabrik seines Vaters. In der Coppa Italia 1986/87 machte er dann mit der AC Parma, die er von der Serie C1 in die Serie B geführt hatte, auf sich aufmerksam, indem er in zwei Partien die AC Milan bezwang. Im Jahr darauf holte ihn Silvio Berlusconi als Trainer zu den Rossoneri.

"Ich hätte nie gedacht, dass man erst ein Pferd sein muss, um Jockey werden zu können“, konterte Sacchi die Kritik an seiner Ernennung. Nicht nur innovativ, sondern auch schlagfertig war er. In seinem ersten Jahr bei Milan gewann er den Scudetto, in den beiden Jahren darauf den Europapokal der Landesmeister sowie den Weltpokal.

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Seine Ideen waren für die damalige Zeit radikal, später wurden sie stilprägend – sie miteinander zu verbinden ist noch heute richtungweisend für den modernden Fussball: Weg von der Manndeckung, hin zur ballorientierten Gegnerdeckung. Aggressives Pressing mit Elementen wie Deckungsschatten und Passwegorientierung. Verknappung von Raum und ein Team, das auf allen Positionen einem klaren Plan folgt.

Bei Sacchi geschah dies lange im 4-4-2-System, zwischen den Angreifern und den Stürmern sollten nicht mehr als 25 Meter liegen. Diese Raumverknappung war damals revolutionär, heute ist sie Standard. Um so spielen zu können, war die Abseitsfalle ein zentrales Element seiner Spielidee – gleiche Höhe von Angreifer und Verteidiger löste damals ja noch ein Abseits aus.

Es gab nur eine echte taktische Revolution, als der Fussball von einem individuellen zu einem kollektiven Spiel wurde. Der Gedanke, elf Menschen beizubringen, sich wie eine einzige Person zu bewegen, macht mir immer noch Gänsehaut.
Sacchi

"Italienische Mannschaften haben sich immer auf die Verteidigung konzentriert – wir haben verteidigt, indem wir attackiert und Druck ausgeübt haben. Sacchi hat das Rezept des neuen Fußballs gehabt. Sein 4-4-2 war – nach meiner Einschätzung jedenfalls – die einzige Art, modernen Fußball zu spielen“, sagte Ancelotti, der später ja ebenfalls ein nicht ganz unerfolgreicher Trainer werden sollte.

"Sacchi startete eine Revolution im italienischen Fußball, auf mentalem und taktischem Niveau. Wir hatten unsere Art zu spielen, und wir haben alle Gegner damit konfrontiert, von Amateuren im Training unter der Woche bis zu Real Madrid im Bernabéu", fügt Donadoni hinzu.

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Im Training wurde die Mannschaft gerne auch mal in ihre Grundformation gestellt, dann erklärte Sacchi, wo sich der imaginäre Ball befindet, während das Team im Trockenen verschob und lernte, die Abläufe zu automatisieren. Gleiches wurde beim Offensivspiel getan: Immerhin war diesmal ein Ball im Spiel, aber keine Gegner: Die Mannschaft spielte im "Elf gegen Null" ihre Offensivabläufe durch. Das ist heute klapperndes Handwerk vieler Fussball-Lehrer – damals verstörte es die Beobachter.

Als ich Bellaria in der vierten Liga trainiert habe, bin ich einmal in die Kabine gekommen, als ein Spieler gesagt hat: "Der Trainer macht Sachen mit uns, die ich weder in der Serie A noch in der Serie B machen musste. Entweder ist er ein Genie oder ...
Sacchi

"Er ließ dich dieselben Dinge ständig wiederholen – vor allem uns Verteidiger. Jeden Tag. Aber wenn Baresi, Costacurta, Tassotti und ich uns heute treffen, dann können wir immer noch wie damals spielen. Es bleibt im Kopf. Das war eines unserer Erfolgsrezepte", so Paolo Maldini.

Zu oft wird Sacchis Spielidee nur auf die Viererkette und die Defensive reduziert, dabei wollte er vor allem auch Offensivspektakel und war weit weg vom Catenaccio alter Prägung. "Ich schicke meine Spieler aufs Feld, um den Menschen 90 Minuten Freude zu bereiten. Ich will bei eigenem Ballbesitz immer fünf Mann vor dem Ball haben. Und es muss immer ein Spieler den linken und den rechten Flügel besetzen. Aber das kann eben jeder sein, es müssen nicht immer die gleichen Leute sein", erläuterte er seine Vision.

Kein Wunder, dass sich Italiens Verband Sacchi 1991 als Nationaltrainer sicherte. Bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA führte der Norditaliener die Squadra Azzurra bis ins Endspiel, wo man Brasilien im Elfmeterschießen unterlag. "Brasilien spielte besser und verdiente den Sieg. Ich wollte immer verdient gewinnen. Darauf kommt es mir an", kommentierte Sacchi später.

Zwei Jahre später bei der Europameisterschaft benötigte seine Mannschaft im letzten Gruppenspiel gegen Deutschland einen Sieg, spielte phasenweise brillant auf, vergab aber einen Strafstoß, dessen Verwandlung für Italien das Weiterkommen bedeutet hätte. Vielleicht fehlte ihm auf Nationalmannschaftsebene zum ganz großen Erfolg schlichtweg die Möglichkeit, genügend Trainingseinheiten abhalten zu können.

"Jetzt, wo ich als Trainer arbeite, verstehe ich erst Ihre Arbeit richtig!"
Van Basten zu Sacchi

Was Sacchi aber unsterblich in der Geschichte des Fussballs macht, sind nicht die großen Titel, die er gewinnen konnte – sondern seinen Einfluss auf die Entwicklung des Spiels und die vielen Trainer, die von seinen Ideen noch heute geprägt sind.

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